Zum 1. Todestag von Papst Benedikt: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Claudia Kaminski und Stefan von Kempis
Die Guardini-Kennerin, die an der Katholischen Hochschule von Heiligenkreuz das „Europäische Institut für Philosophie und Religion“ leitet, ist auch Trägerin des „Ratzinger-Preises“, der als eine Art Nobelpreis der Theologie gilt. Für KTV und Radio Vatikan sprachen wir mit Gerl-Falkovitz und fragten sie nach ihrer Sicht des vor einem Jahr verstorbenen deutschen Papstes. Das vollständige Interview wird am 31.12.2023 um 16 Uhr auch im Programm von KTV ausgestrahlt.
Interview
Was hat denn Papst Benedikt für die Weltkirche bedeutet?
Ich habe seine Bedeutung folgendermaßen empfunden: Ein Mann von einer tiefen Durchdringung dessen, was Kirche heißt – in ihrer langen, langen Tradition, mit den unglaublich vielen Meinungen großer, kleiner und mittlerer Qualität von Kirchenvätern und Kirchenmüttern (die wir auch haben) über die Renaissance, die Reformation (in der er sehr gut Bescheid wusste!) bis zu den heutigen spätmodernen Tagen. Das bedeutet ja einen Überblick, den nur wenige Menschen gewinnen. Vielleicht könnte man an dieser Stelle Hans Urs von Balthasar nennen, der einen ähnlich großen Überblick hatte; die beiden kannten und schätzen sich außerordentlich…
Bei Joseph Ratzinger kam, gerade weil er als Dogmatiker arbeitete, durch, dass er, wo immer man Fragen stellte, im Grunde genommen auf den Kern zugriff, auf den Kern des Problems. Das habe ich mehrfach erlebt. Vielleicht waren manche Details nicht so wichtig, aber er konnte die Fragen einordnen und konnte sie auch beantworten, und das ist eine unglaubliche Fähigkeit angesichts dieser Verwirrung, in der wir letztlich auch im Blick auf die Kirche heute stehen.
Jeder weiß, dass er nicht Papst werden wollte; das hat er später auch gesagt, aber das war ja sowieso schon sichtbar. Doch dann sich hineinstellen in diesen Dienst und die Last tragen – es ist eine ganz große Qualität, dass er das unternommen hat. Ich bin überzeugt, dass er genau in diesem Sinne bleiben wird: dass er gelesen wird. In den nichtdeutschsprachigen Ländern ist der Name Ratzinger selbstverständlich an der allervordersten Front, sowohl in den Bibliotheken als auch in den Doktorarbeiten.“
Jetzt haben Sie die Rezeption von Ratzinger im nichtdeutschen Sprachgebiet schon benannt. Was glauben Sie denn – was wird letztendlich von ihm bleiben in der öffentlichen Rezeption?
„Ich glaube, je länger das währen wird, umso stärker wird die Bedeutung von Papst Benedikt und auch des Theologen Ratzinger hervortreten. Das geht gar nicht anders. Wenn man wirklich seine Werke liest, diese Qualität des Denkens… die wird unabweisbar aufleuchten. Ob die Medien, die Mainstream-Medien das aufgreifen, ist eine andere Frage; ihr Thema ist nicht zwingend die Theologie. Ich glaube, diese Erfahrung der Qualität, das wird sich auf Dauer halten und auch durchsetzen.“
Jetzt haben Sie sehr stark den theologischen Aspekt betont. Was bleibt denn von der Lehre Benedikts, von seinem Pontifikat, sagen wir mal, für den kleinen Mann auf der Straße, für den einfachen Gläubigen?
„Das ist eine schöne Frage – weil ich glaube, dass er wirklich nicht für die Theologen geschrieben hat. Ratzinger hat ja ein Buch verfasst, mit dem er bis auf die Ebene der Kirchgänger gelesen wird, die ‚Einführung in das Christentum‘, damals in Tübingen geschrieben – übrigens an einem Tiefpunkt seiner geistlichen Erfahrung, glaube ich. In Tübingen begann damals die Studentenrevolution, auch in der Theologie, und ich glaube, er hat die ‚Einführung‘ geschrieben, weil ihm klar war, dass dieses Wissen versickert, also dass gerade die Gestalt Jesu so schwach wird. Ich kenne jemanden, der aus der Kirche ausgetreten war, ein ziemlich bekannter Mann, der begann, das auch mal wieder zu lesen: irgendwie war er doch unruhig, und er trat aufgrund dieser ‚Einführung‘ wieder ein. Und zwar, weil er sagte: ‚Ich wusste ja gar nicht, woraus ich ausgetreten war. Jetzt habe ich es endlich mal verstanden!‘ Das ist aber jemand, der kein Theologe war.
Der einfache Mann (weil sie danach fragten), der einfache Gläubige, die einfache Frau findet in diesem Schriften und auch in seinen Predigten ganz kurze Sätze – und wenn man die auf sich wirken lässt, kommt man wirklich in die Tiefe. Es hat gar nichts mit Intelligenz oder Abitur zu tun, sondern man hört den Herzschlag des Christentums. So auch beispielsweise in seinen Jesus Büchern, in denen durchaus Sätze stehen, die einen dann nicht wieder loslassen. Dann, glaube ich, kommt man mal weg von dem Bild des Professors, der halt auf seinem Schreibtisch versucht, eine neue Theorie aufzustellen.“
Wie sehen Sie denn jetzt, ein Jahr nach seinem Tod, seinen Rücktritt? War das eine gute Lektion über und für das Petrusamt, oder…
„Das Urteil steht mir nicht zu; aber wenn Sie mich fragen, würde ich sofort sagen: Ja. Es kommt ja auch aus einer Erfahrung des sehr langsamen und mühsamen Sterbens seines Vorgängers… Für ihn, jetzt sein Nachfolger, war deutlich, dass das Amt eine Präsenz erfordert, eine Leistungskraft, die ja auch ihm das Letzte abverlangt hat. Ich denke, man kann diesen Rücktritt wirklich ehren als eine rationale Form, das ist vernünftig, und dahinter wird kein späterer Papst mehr zurückgehen können. Die Frage ‚Was ist der Zeitpunkt, wo die Leitung wirklich in eine kraftvolle andere Hand übergehen muss‘ wird sich wahrscheinlich in jedem Pontifikat einmal stellen. Das ist eine große Leistung.“
In vielen Nachrufen nach seinem Tod ist er vor allem mit Missbrauchs-Vertuschung in Zusammenhang gebracht worden. Wie sollte sich Deutschland, wie sollte sich die Kirche an den deutschen Papst erinnern?
„Da habe ich ein ziemlich entschiedenes Urteil: Man hat da in einem Protokoll aus der Münchner Zeit mit der Lupe gesucht, um so etwas zu finden. Demgegenüber möchte ich jetzt noch mal folgende Fakten in Erinnerung rufen: Das begann schon bei seiner Aufgabe in der Glaubenskongregation, aber als Papst hat er das Kirchenrecht an dieser Stelle elementar verschärft. Er hat viele Priester in diesem Zusammenhang von ihrem Priestertum entbunden, hat die Überprüfung dieser Fälle verschärft. In der Summe kann man sagen, dass sich niemand vor und nach Ratzinger rein quantitativ derart mit dieser Frage beschäftigt hat. Man kann auch noch daran erinnern, wie er sich, als in Irland die Missbrauchs-Skandale losbrachen (bei uns war das damals noch nicht der Fall) mit Männern und Frauen getroffen hat, die betroffen waren, und wie er mit ihnen geweint hat.
Und um das abzurunden: Umgekehrt liegen ja viele Berichte aus deutschen Diözesen noch gar nicht vor, obwohl klar ist, ein welch großer Teil des deutschen Episkopats tatsächlich vertuscht hat. Ich höre da keine Angriffe, und ich kann das nicht zusammenbringen, was da läuft. Natürlich sind das Hirten, die jetzt sagen, sie würden das nicht mehr tun… Aber rein vom Faktum her liegen da unglaublich viel mehr Fälle von Vertuschung vor; das wird auch noch mal dokumentiert werden. Dieses Missverhältnis kann ich nicht begreifen."
Vor allem ist auch seine Mahnung schon beim Kreuzweg 2005 unvergesslich: „Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter jenen, die ihr ganz zugehören sollten…“
„Das war nicht nur eine Rede – er hat gelitten.“
Jetzt gibt es ja die Weltsynode von Papst Franziskus. Und ihm geht es bei dieser Weltsynode vor allem um einen neuen Stil, der von Zuhören und Offenheit für den Heiligen Geist geprägt ist. Kann so ein synodaler Prozess wirklich auf harte Themen wie beispielsweise Zölibat verzichten?
„Was die Bischöfe im nächsten Jahr thematisieren, ist noch offen.“
Kann es sein, dass das auch zum Thema wird?
„Die eigentlich harte Frage ist eine andere. Die hat Papst Franziskus selber gestellt. Gleitet Europa einfach ab, weil es keine Ahnung mehr hat vom Evangelium? Die Frage nach dem Zölibat ist ja eine zweitrangige Frage. Die harte Frage ist, wenn schon getaufte Kinder überhaupt keine Ahnung mehr davon haben, was Gottesdienst ist, sich darin auch nie aufhalten, irgendwann mal eingeführt werden und dann sofort wieder verschwinden, und wenn die Firmung als das Sakrament des Austritts aus der Kirche bezeichnet wird. Entschuldigung, das ist jetzt böse… Also, das eigentlich harte Thema ist: Was bedeutet der Ausfall an Glaubensvermittlung heute für Europa? (In anderen Kontinenten läuft alles ziemlich anders.) Und wie kann dieser Ausfall überhaupt noch einmal aufgefangen werden? Das harte Thema heißt Evangelisierung.
Jeder von uns, der in irgendeiner Gemeinde lebt, weiß, wie dünn das Glaubenswissen ist. Ich will nichts Böses sagen, das steht mir jetzt nicht zu – aber das Thema ist wirklich Evangelium. Wollen wir das noch mal lesen, oder wollen wir es nicht?“
Das Interview mit Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz wurde von K-TV und Radio Vatikan gemeinsam erstellt. Dies ist eine gekürzte Fassung des Textes.
(vatican news )
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