10 Jahre nach „Wir schaffen das“: Kirche zieht Bilanz der Flüchtlingshilfe
Mario Galgano - Vatikanstadt
Das Engagement sei getragen von der christlichen Botschaft. Erzbischof Stefan Heße erinnerte an ein Zitat von Papst Franziskus aus dem Jahr 2015: „Die christliche Hoffnung ist kämpferisch.“ Und er betonte: „Angesichts der Tragödie zehntausender Flüchtlinge, die vor dem Tod durch Krieg und Hunger fliehen (...) ruft uns das Evangelium auf, ja es verlangt geradezu von uns, ‚Nächste‘ der Geringsten und Verlassenen zu sein.“
Globale Realität und europäische Politik
Andreas Frick, Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks Misereor, betonte, dass 2015 zwar für Deutschland eine Zäsur gewesen sei, für die meisten Regionen der Welt jedoch „ein Jahr wie viele andere“. Er kritisierte, dass die internationale Gemeinschaft in den Jahren zuvor weggeschaut habe, als die Krisen in Syrien und im Irak eskalierten. „Wir sehen noch zu wenig, dass die Nachbarländer in den Krisenregionen Großes geleistet haben und immer noch leisten“, so Frick. Er wies darauf hin, dass zwei von drei Vertriebenen in ihren Heimat- oder Nachbarländern Zuflucht fänden.
Misereor unterstütze dort Hunderte von Projekten. Frick nannte konkrete Beispiele der Flüchtlingshilfe auch in anderen Weltregionen: Im Libanon finanziere Misereor Bildungseinrichtungen für Flüchtlingskinder, in Bangladesch gebe es Berufsbildungsmaßnahmen und im Kongo sorge man für psychosoziale Versorgung von Vertriebenen.
Gleichzeitig verurteilte Frick die zunehmende Abschottung Europas: „Die europäischen Grenzen sind bis heute mit die tödlichsten weltweit.“ Er kritisierte, dass die EU mit Millionenbeträgen Autokraten zu „Türstehern Europas“ mache. Anstatt sich für Menschenrechte und humanitäres Recht einzusetzen, werde sogar darüber nachgedacht, Migranten in Kriegsregionen wie Ruanda auszufliegen. Frick warnte zudem, dass das individuelle Recht auf Asyl infrage gestellt werde, das ein Kernprinzip der deutschen Demokratie sei.
„Wir schaffen das“ als Auftrag an Staat und Gesellschaft
Auch Hannes Schammann, Professor für Politikwissenschaft und Mitglied im Sachverständigenrat für Integration und Migration, ordnete Merkels Satz aus der Sicht der Migrationspolitik ein. Er betonte, dass der Ausdruck weniger eine Feststellung als vielmehr „ein Wunsch und eine Aufforderung“ gewesen sei. „‚Wir schaffen das‘ bezog sich vor allem auf die unmittelbare Herausforderung der Aufnahme, das heißt der Unterbringung und Versorgung“, so Schammann. Eine nachhaltige Integration erfordere jedoch „einen langen Atem“.
Schammann sieht in der Flüchtlingshilfe der Kirchen eine doppelte Rolle. Zum einen seien sie „ein Faktor für gesellschaftliche Resilienz“, da sie in Krisenzeiten Orte und professionelle Begleitung für Freiwillige zur Verfügung stellen. Er warnte davor, dass der Staat aus Angst vor Legitimitätsverlust die Zivilgesellschaft ausbremsen könnte. Zum anderen seien die Kirchen ein „moralischer Fixstern in der Debatte“. In von „Panik getriebenen Migrationsdebatten“ sei es ihre Aufgabe, beharrlich die Frage nach dem moralischen Kompass zu stellen und das Wertefundament des Handelns zu verteidigen.
Einblicke aus der Praxis: „Wir haben trotz aller Kritik etwas erreicht“
Die Perspektive aus der Praxis lieferte Monika Schwenke, Migrationsbeauftragte im Bistum Magdeburg. Sie gab zu, dass sie den Satz von Angela Merkel 2015 „auch so gesagt“ hätte, da sie „mit Vertrauen in unsere Sozialsysteme, in die Zivilgesellschaft und in die Kraft der kirchlichen Gemeinden und Institutionen“ davon ausgegangen sei, dass die Aufgabe zu bewältigen sei. Sie sei jedoch überrascht gewesen von den tatsächlichen Herausforderungen, wie dem Mangel an Unterkünften und Personal in den Behörden.
Trotzdem zieht Schwenke eine positive Bilanz: „Wir haben trotz aller auch angemessener Kritik etwas erreicht.“ Sie verwies auf unzählige Ehrenamtliche, die sich in Kirchengemeinden engagiert haben. Als Beispiele aus dem Bistum Magdeburg nannte sie die Malteser, die als Schulbegleiter fungieren, die Familienbildungsstätte Naumburg mit einem festen Treffpunkt für Migrantinnen und die Caritas, die in Erstaufnahmeeinrichtungen Lernwerkstätten für Kinder eingerichtet hat. Sie betonte, dass Integration einen „langen Atem“ brauche und oft vier bis sieben Jahre dauere, da die Menschen traumatische Erfahrungen verarbeitet hätten.
Bedeutendes Engagement im In- und Ausland
Erzbischof Heße hob hervor, dass etwa 60 Prozent der finanziellen Mittel für die internationale Flüchtlingshilfe verwendet wurden, da die Mehrheit der weltweit über 120 Millionen Geflüchteten in den Ländern des Globalen Südens Zuflucht finde. Er bezeichnete die Solidarität der Kirche als grenzenlos und forderte, nicht die Verhinderung von Migration, sondern die Bewältigung der Fluchtursachen in den Fokus zu rücken.
Auch im Inland sei das Engagement der Kirche vielfältig. Es reiche von materieller Hilfe und psychosozialem Beistand bis hin zu Rechtsberatung, Integrationsförderung und Seelsorge in den Muttersprachen. Allein im Jahr 2024 konnten rund 500.000 Geflüchtete in Deutschland durch die Dienste der katholischen Kirche erreicht werden. Heße würdigte dabei das unverzichtbare Engagement der Ehrenamtlichen, deren Zahl sich auf etwa 35.000 eingependelt habe.
Obwohl das kirchliche Handeln bei 80 Prozent der Katholiken und 73 Prozent der Konfessionslosen Zuspruch finde, beklagte Heße das rauer gewordene gesellschaftliche Klima. Er kritisierte „polemische Debatten und flüchtlingspolitische Unterbietungswettbewerbe“ und forderte, die Erfolge der Integration nicht kleinzureden. Als Beleg dafür nannte er, dass ein beträchtlicher Teil der syrischen Geflüchteten von 2015 mittlerweile erwerbstätig sei und über 200.000 die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hätten.
Die Deutsche Bischofskonferenz wolle das Engagement der vergangenen zehn Jahre besser sichtbar machen. Dazu wurde eine Videodokumentation veröffentlicht. Darüber hinaus findet im Vorfeld des Heiligen Jahres im Oktober eine „Woche der katholischen Flüchtlingshilfe“ statt. Der Leitspruch der Kirche bleibe unverändert: „An der Seite der Schutzsuchenden“.
(dbk)
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