Buchtipp: Christoph Türcke - Philosophie der Musik Buchtipp: Christoph Türcke - Philosophie der Musik 

Unser Buchtipp: Türckes große „Philosophie der Musik“

Was ist Musik? Klang und Schwingung, Mathematik und Gefühl, Ausdruck und Ordnung zugleich – und doch entzieht sie sich jeder eindeutigen Definition. Christoph Türcke, einer der originellsten deutschen Kulturphilosophen, nimmt sich in seinem neuen Buch genau dieses Paradox vor.

Türckes Philosophie der Musik ist keine trockene Systematik, sondern ein erzählerisch komponiertes, geistreiches und oft überraschend poetisches Werk. Türcke denkt Musik nicht als Fach, sondern als Erfahrung – als „Erschütterungskultur“, die vom Urlaut bis zum Jazz reicht.

Schon der Aufbau des Buches gleicht einer Oper. In fünf Akten, neun Intermezzi und einer Coda führt Türcke durch eine gedankliche Partitur, die zwischen Anthropologie, Theologie, Musikgeschichte und Philosophie changiert. Er selbst nennt sein Werk eine „musikarchäologische Expedition“ – und tatsächlich liest es sich wie ein klanglicher Gang durch die Geschichte des Menschseins.

Vom Schrei zur Sprache

Der erste Teil ist eine Art Urszene: Musik beginnt mit dem Schrei. Türcke schildert, wie sich im archaischen Laut die Trennung von Geräusch und Klang vollzieht. Aus Erschütterung wird Ausdruck, aus Laut wird Rhythmus. „Authentische Musik ist Erschütterungskultur, die bis ins Subakustische hinabreicht“, schreibt er. Damit verknüpft er biologische, psychologische und soziale Dimensionen: Musik ist die sublimierte Reaktion auf Angst, Lust, Schmerz – eine der frühesten Kulturtechniken des Homo sapiens.

Im „1. Akt: Hominidenmusik“ beschreibt Türcke diesen Prozess als eine Evolution von der Lautverdichtung zur Satzbildung. Musik ist für ihn kein Nebenprodukt der Sprache, sondern ihre Schwester. Wo Worte aufhören, beginnt das Klingen – und umgekehrt. Der Mensch, so seine These, ist das Tier, das auf Erschütterungen antwortet, indem es singt.

Instrumente, Rituale, Bühnen

Der „2. Akt“ folgt dem Klang ins Soziale. Die Erfindung der Instrumente markiert für Türcke den Moment, in dem der Mensch sich vom reinen Naturlaut emanzipiert. Knochenflöte und Trommel sind nicht nur Werkzeuge, sondern Symbole – sie machen Klang reproduzierbar und kollektiv erfahrbar. Türcke verfolgt die Spur dieser Entwicklung von schamanischen Ritualen über Opferzeremonien bis zur griechischen Tragödie. Musik wird zur Bühne, zur Darstellung menschlicher Konflikte, zur „Verkörperung von Maß und Maßlosigkeit“.

Seine Darstellung bleibt dabei nie museal. Türcke denkt Musik als soziale Praxis – als „medium der Ergriffenheit“, das Gemeinschaft stiftet, weil es das Vereinzelte übersteigt. Wer spielt, wer hört, wird Teil einer Schwingung, die Individuen verbindet.

Von der mousikē zur Musik

Im „3. Akt“ gelangt Türcke in die Welt der Antike, wo Musik (mousikē) noch Einheit von Wort, Tanz und Ton war. Erst mit der Philosophie – von Pythagoras bis Platon – spaltet sich diese Einheit. Der Übergang von Ritual zu Theorie ist für Türcke zugleich der Beginn des westlichen Musikdenkens. Hier entstehen Skalen, Harmonien und Begriffe wie „Ton“, „Oktave“ oder „Konsonanz“.

Besonders eindrucksvoll ist, wie Türcke den Weg von der antiken Tragödie über Nietzsche und Wagner bis zur „absoluten Musik“ zeichnet. Er beschreibt, wie Musik im Laufe der Geschichte ihren narrativen Kern verliert und zur reinen Form wird – und darin eine metaphysische Dimension gewinnt: die Sehnsucht nach Freiheit vom Wort, von Bedeutung, vom Zweck.

Tonalität und Theologie

Der „4. Akt: Tonalität als christliche Engführung“ ist der vielleicht provokanteste Teil des Buches. Türcke interpretiert die europäische Musikgeschichte als religiös grundiert: Die Spannung zwischen Dissonanz und Auflösung, zwischen Dominante und Tonika, spiegle die christliche Erwartungsstruktur von Sünde und Erlösung. Musik, so seine These, ist die ästhetische Schwester der Theologie.

Diese Deutung führt ihn zu einer großen Kulturgeschichte der Tonalität – von der Gregorianik über Bach und Beethoven bis Schönberg und Stockhausen. Türcke liest die Entwicklung der Harmonie als eine Form der „Parusieverzögerung“: Die Erlösung – das Ende der Spannung – bleibt immer in der Ferne, und genau daraus schöpft Musik ihre Kraft.

Mit spürbarer Leidenschaft beschreibt er, wie die Moderne versucht, diese Struktur zu überwinden – von der Zwölftonmusik bis zu den elektronischen Experimenten der Gegenwart. Doch auch dort, meint Türcke, bleibt die Dissonanz als „Stachel der Musik“ unaufhebbar. Vollkommene Harmonie wäre Stillstand – und damit das Ende des Klangs.

Revivals und Rückkopplungen

Der „5. Akt“ führt in die Gegenwart. Hier betrachtet Türcke die Wiederkehr des Archaischen in Oper, Jazz und Pop. Was die Messen und Motetten der Kirche einst waren, sind heute Festivals und Konzerte: Räume kollektiver Ergriffenheit. In Rap, Techno oder Gospel erkennt Türcke die Fortsetzung der alten Erschütterungskultur unter globalisierten Bedingungen.

Auch wenn er die Kulturindustrie kritisch sieht, spricht aus seinen Analysen keine elitäre Ablehnung. Vielmehr zeigt er, wie das „Unerhörte“ immer wieder neue Formen findet – und wie selbst die Massenandacht moderner Popmusik an religiöse Ursprünge erinnert. Musik bleibt für ihn eine „Sublimation des Schreis“: auch in digitalen Zeiten ein Medium menschlicher Transzendenz.

Coda: Die Prinzessin auf der Erbse

Im kurzen Nachspiel zieht Türcke eine poetische Bilanz. Der Mensch, schreibt er, ist wie die Prinzessin, die jede Erbse spürt – ein Wesen der Schwingung, der Resonanz. Hören heißt, berührbar bleiben. Musik wird so zum Inbild des Humanen: „Sie zeigt, dass Denken und Fühlen keine Gegensätze sind, sondern zwei Schwingungen desselben Leibs.“

Damit schließt sich der Kreis: Vom Urlaut der Natur bis zur feinsten Differenz des modernen Hörens führt Türckes Philosophie zurück zum Körper, zur Empfindung, zur Verwundbarkeit.

Ein Werk von seltener Klangtiefe

Christoph Türcke ist kein Musikwissenschaftler, sondern Philosoph – und das ist die Stärke seines Buches. Er schreibt nicht über Noten, sondern über Sinn. Seine Sprache ist dicht, präzise, gelegentlich barock, doch stets rhythmisch geführt. Der Text liest sich, als wolle er selbst klingen. Wer Türcke kennt – etwa durch seine Arbeiten über Religion, Medien und Gewalt –, wird hier den vertrauten Denkstil wiederfinden: große Linien, überraschende Querverbindungen, der Mut zur Spekulation.

Kritisch ließe sich anmerken, dass das Buch eurozentrisch bleibt und außereuropäische Musikkulturen kaum berücksichtigt. Doch Türckes Anspruch ist ein anderer: Er will nicht Enzyklopädie, sondern Erkenntnis. Musik, so sein Credo, ist der Schlüssel zum Verständnis des Menschlichen – zur „Verwandlung von Erschütterung in Sinn“.

Fazit

Philosophie der Musik ist ein gewaltiges, klangvolles Buch – zugleich Denkabenteuer, Bildungsroman und Liebeserklärung an das Ohr. Wer sich darauf einlässt, erlebt eine Expedition in die Tiefen des Hörens. Türcke gelingt, was selten gelingt: Musik zu denken, ohne ihr Geheimnis zu zerstören. Ein Werk, das bleibt – lange, nachdem der letzte Ton verklungen ist.

Zum Mitschreiben: Christoph Türcke - Philosophie der Musik, erschienen im C.H.-Beck Verlag 2025, ISBN: 978 3406 82994 9

Eine Rezenzion von Mario Galgano.

(vatican news - mg)

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10. November 2025, 14:44