Schweizer Kirchenhistoriker fordert breitere Perspektive auf Machtmissbrauch
Mario Galgano - Vatikanstadt
Der Band basiert auf einer Tagung an der Päpstlichen Universität Gregoriana im März 2024 und geht der Frage nach, welche Rolle Erinnerung und Vergessen bei der Festigung von Machtstrukturen spielen.
Missbrauch als gesellschaftliche Dynamik
Jesuitenpater und Kirchenhistoriker Paul Oberholzer, Professor an der Päpstlichen Universität Gregoriana (PUG), erklärte im Gespräch mit Radio Vatikan, das Buchprojekt sei aus der konkreten Erfahrung des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker entstanden. Ziel sei es jedoch, diese Erfahrung „auf eine größere gesellschaftliche Ebene zu heben“.
„Es geht darum, historisch zu untersuchen, welche Mechanismen eben zu Missbrauch, Machtmissbrauch, auch Erinnerungen führen“, so Oberholzer. Er fragte, ob solche Unrechtsstrukturen auch anderswo eine Rolle spielen und wie die Geschichtswissenschaft durch die Aufdeckung dieser Dynamiken in der Kirche für andere gesellschaftliche Phänomene sensibilisiert werden könne.
Sensibilität statt Empfehlungen
Der Kirchenhistoriker sieht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft nicht in der direkten Erteilung von Ratschlägen an die Kirche, sondern in der Kreation einer neuen Sensibilität. „Der Historiker untersucht einmal zuerst und gibt nicht Empfehlungen ab“, betonte Oberholzer.
Er sieht großes Potenzial für weitere Forschung, etwa im Bereich des Verantwortungsbewusstseins im Mittelalter. Er verwies auf Darstellungen des Jüngsten Gerichts an Kathedralen, wo oft Bischöfe und Kleriker unter denjenigen waren, die in die Hölle geführt wurden. „Die Auftraggeber des Reliefs waren selber Bischöfe und Kleriker, das heißt, die wussten sehr genau, dass sie hohe Verantwortung haben und dass sie viel riskieren“, erklärte Oberholzer und schloss: „Es geht offensichtlich nicht um die Kirche der reinen Hände.“
Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld sei die Integration der Kolonialgeschichte in die Geschichtsschreibung der jungen Kirchen in den Missionsländern, um „positiv kritische Geschichtsschreibung“ zu ermöglichen.
Erinnerung als Schlüssel zur Rechenschaftspflicht
Die Mitherausgeberin Franziska Metzger von der Pädagogischen Hochschule Luzern betonte die transdisziplinäre Perspektive des Bandes: „Wie wird Macht und Machtmissbrauch erinnert, und welche Rolle spielt Erinnerung in der Festigung von Macht und Machtmissbrauch oder aber in der öffentlichen Kritik und Aufarbeitung von Machtmissbrauch?“
Hans Zollner, Professor am Institut für Anthropologie der PUG, hob die institutionelle Bedeutung hervor: „Eine konsequente Erinnerungskultur führt zu glaubwürdigem Engagement für Transparenz, Rechenschaftspflicht und wiederherstellende Gerechtigkeit.“ Dies sei zentral, um sicherere Lebensräume zu schaffen.
Die Schweizer Botschaft unterstützte die Herausgabe der italienischen Ausgabe, da diese „interdisziplinäre Auseinandersetzung zum Thema Machtmissbrauch auch einen wichtigen Beitrag zu den aktuellen Diskussionen über sexuellen Missbrauch im Umfeld der Kirche leisten kann.“ Das Werk ist auch auf Englisch erschienen.
(vatican news)
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