Leo XIV. im August bei einem Essen mit Bedürftigen in Castel Gandolfo Leo XIV. im August bei einem Essen mit Bedürftigen in Castel Gandolfo  (@Vatican Media)

„Dilexi te“: Ein Kollegengespräch

Das Interesse am ersten größeren Dokument im Pontifikat des neuen Papstes ist naturgemäß riesig. Wir fragten unseren Redaktionsleiter Stefan v. Kempis, wie er das Schreiben „Dilexi te“ einschätzt.

Was ist dein erster Eindruck?

„Das ist n i c h t die erste große Programmschrift aus der Feder von Leo XIV.; darauf müssen wir noch länger warten. Es ist aber auch nicht sozusagen das letzte Dokument aus der Ära des verstorbenen Papstes Franziskus (2013-25). Denn würde man es lediglich so einstufen, dann würde es wie der Epilog einer abgeschlossenen Ära wirken. Nein, es ist ein Franziskus-Dokument, das sich aber Leo XIV. „unter Hinzufügung einiger Überlegungen“ ausdrücklich zu eigen macht! Und das bedeutet, dass der Nachfolger diese Linie des Franziskus ausdrücklich in sein eigenes Pontifikat hinein weiterzieht. Eine programmatische Aussage des neuen Papstes ist das durchaus, sie signalisiert: Das besondere Engagement für die Armen, das ein Merkmal des letzten Pontifikats war, ist nicht vorüber, sondern geht mit voller Kraft weiter.“

Warum ist „Dilexi te“ eine „Exhortation“ und keine Enzyklika?

„Weil sie sich – wie bei ‚Exhortationen‘, also ‚Ermahnungen‘ üblich – in erster Linie an die eigenen Leute richtet, also an die Katholiken – während Enzykliken seit Johannes XXIII. generell ‚an alle Menschen guten Willens‘ gerichtet sind. Der Fokus ist also etwas enger als bei einer Enzyklika.“


Und was ergibt ein erster Blick auf „Dilexi te“?

„Das Schreiben hat 53 Seiten mit 121 Absätzen; es ist damit weniger lang als eine Enzyklika. Die fünf Kapitel führen aus, warum der Einsatz für die Armen wichtig ist, und schildern die christliche Haltung zur Armut von der Zeit Jesu, der als ‚armer Messias‘ vorgestellt wird, über die Kirchenväter und Ordensgründer bis in die heutige Zeit. Dabei werden christliche Vorbilder im Verhältnis zu den Armen, wie Franz von Assisi oder Mutter Teresa, besonders herausgestellt. Und auch auf dem Lehramt der Päpste zum Thema Armut liegt ein besonderer Akzent, von Leo XIII. bis Franziskus. Generell ist das Dokument bis in die einzelnen Formulierungen hinein ausgesprochen stark von Papst Franziskus geprägt: Da ist zum Beispiel die Rede von der Wirtschaft, die „tötet“, und von der „Wegwerfkultur“. Das waren emblematische Wendungen des verstorbenen Pontifex.“

Was sind die entscheidenden Gedanken von „Dilexi te“?

„Beim Zugehen auf Arme geht es für Christen ‚nicht um Wohltätigkeit, sondern um Offenbarung: Der Kontakt mit denen, die keine Macht und kein Ansehen haben, ist eine grundlegende Form der Begegnung mit dem Herrn‘. Und: Wenn die Kirche die ‚vorrangige Option für die Armen‘ auf neue Weise ernstnimmt, dann wird das ‚eine außerordentliche Erneuerung sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft‘ bewirken. Ausreden lässt das Papstschreiben nicht gelten: Wer praktizierte Nächstenliebe ‚verachtet oder lächerlich macht‘, droht ‚aus dem lebendigen Strom der Kirche herauszufallen‘ und sollte dringend ‚das Evangelium neu lesen‘. ‚Man kann nicht beten und Opfer darbringen, während man die Schwächsten und Ärmsten unterdrückt.‘“


Äußert sich das Dokument auch zur Theologie der Befreiung?

„Nur indirekt. Die Problematik, die dieses Thema gerade im lateinamerikanischen Kontext hatte, welchen Franziskus gut kannte und den auch Leo als früherer Bischof in Peru gut kennt, wird nicht explizit angesprochen. Stattdessen betont ‚Dilexi te‘ einerseits: ‚Die Sendung der Kirche, wenn sie ihrem Herrn treu ist, besteht immer darin, die Befreiung zu verkünden. Auch heute noch…‘ Andererseits zitiert das Schreiben aus einer Instruktion der damaligen Glaubenskongregation unter Kardinal Joseph Ratzinger, dem späteren Benedikt XVI., zur Theologie der Befreiung aus dem Jahr 1984 und bemerkt dazu nur, das sei ‚ein Dokument, das anfangs nicht von allen positiv aufgenommen worden ist‘.“ Immerhin lobt der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück in einer ersten Analyse, dass das Schreiben die Anliegen der Befreiungstheologie und der Neuen Politischen Theologie erkennbar aufgreife. Er verweist zum Beleg auf Leos Appell zur praktischen Solidarität, aber auch auf das Beharren auf dem Prinzip der „Subjektwerdung aller vor Gott“ und einem Plädoyer für eine „Mystik der offenen Augen“.

Was sagt das Dokument mit Blick auf die Ökumene oder den interreligiösen Dialog?

„Nichts. Auch daran sieht man, dass es in erster Linie binnenkirchlich angelegt ist. Leo XIV. verteidigt den Einsatz für die Armen gegen den Verdacht, dass das mit der christlichen Tradition doch nicht so viel zu tun habe. ‚Die Sorge für die Armen ist Teil der großen Tradition der Kirche“, beteuert er, und: ‚Die Liebe zu den Armen ist ein wesentliches Element der Geschichte Gottes mit uns‘. Interessant ist, wie er den Einsatz für die Armen mit der Erneuerung der Kirche verklammert: ‚Jede kirchliche Erneuerung hat immer diese vorrangige Aufmerksamkeit für die Armen … zu ihren Prioritäten gezählt‘. Auffallend: Das Zweite Vatikanische Konzil wird nur sparsam zitiert, stattdessen stellt Leo ausführlicher die Gedanken der lateinamerikanischen Generalkonferenz von Aparecida aus dem Jahr 2007 vor. Übrigens fehlt ein Bezug auf die erste Enzyklika Benedikts XVI. von 2005 (Deus Caritas est); dabei geht es im zweiten Teil dieser Enzyklika genau um dieselben Themen wie in ‚Dilexi te‘.

 

Das schönste Zitat aus dem neuen Papst-Dokument?

„Für mich dieses hier: ‚Christen dürfen die Armen nicht bloß als soziales Problem betrachten: Sie sind eine ‚Familienangelegenheit‘. Sie gehören ‚zu den Unsrigen‘.‘ Heißt übersetzt: Wir sind nichts Besseres; kein Grund, die Nase hoch zu tragen. Das ist Evangelium pur.“

(vatican news)
 

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09. Oktober 2025, 12:03