Vor 60 Jahren: Zweites Vatikanisches Konzil
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
11. Oktober 1962: „Winds of Change“ im Vatikan. Der Petersdom hat sich in eine überdimensionale Konferenzaula verwandelt, Radio- und Fernsehstationen aus aller Welt berichten. „Es war ein glanzvoller Tag“, so erinnert sich ein Teilnehmer, der heutige emeritierte Papst Benedikt XVI., Jahrzehnte später. Joseph Ratzinger ist an diesem 11. Oktober als Peritus, als theologischer Berater, dabei; er lässt sich beeindrucken vom „feierlichen Einzug von über 2.000 Konzilsvätern in die Basilika“, findet dann aber die Auftakt-Veranstaltung im Dom etwas zu langatmig.
„Ehrwürdige Brüder!“ So begrüßt Johannes XXIII. die Anwesenden auf Latein. „Es jubelt die Mutter Kirche, weil durch besondere Gnade der göttlichen Vorsehung dieser hochersehnte Tag angebrochen ist, an dem hier am Grabe des hl. Petrus unter dem Schutz der jungfräulichen Gottesmutter … das Zweite Vatikanische Ökumenische Konzil seinen Anfang nimmt.“
Ein Konzil ohne Vorbild
Er, Johannes, hat dieses Konzil gewollt, hat es einige Jahre zuvor, im Januar 1959, zur allgemeinen Überraschung angekündigt. Es ist das 21. Konzil – und dennoch ohne Vorbild. Denn die bisherigen Konzilien haben, angefangen mit der Versammlung von Nizäa im Jahr 325, Lehrsätze formuliert, Irrtümer verurteilt. Johannes‘ Konzil hingegen soll ein Pastoralkonzil sein, soll auf die Ängste und Hoffnungen der Menschen von heute hören, soll den Glauben in zeitgemäßer Sprache darlegen und auf die getrennten christlichen Geschwister zugehen. Als brüderliche Delegierte ziehen mehrere Dutzend Gäste aus anderen christlichen Kirchen an diesem 11. Oktober mit in den Petersdom ein.
„Die Welt braucht Christus – und es ist Auftrag der Kirche, Christus der Welt zu bringen.“ So hat es der Roncalli-Papst in einer Radio-Botschaft einen Monat vor Konzilsbeginn formuliert. „Aber die Welt hat ihre Probleme, für die sie voller Beklemmung nach Lösungen sucht. Und natürlich kann die sorgenvolle Suche nach einer Lösung dieser Probleme ein Hindernis darstellen für die Verbreitung der Wahrheit und der heiligenden Gnade.“ Darum will Johannes XXIII. jetzt in einen Dialog mit der Welt eintreten. Und dazu will er die Kirche auf Augenhöhe bringen: „aggiornamento“ heißt das Zauberwort, „Verheutigung“. Die Wahrheit soll nicht geändert, aber sie soll für die heutige Zeit auf andere Weise verkündet werden.
„Dies war ein Augenblick einer außerordentlichen Erwartung“
„Dies war ein Augenblick einer außerordentlichen Erwartung“, kommentiert Jahrzehnte später Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. „Großes musste geschehen… Das Christentum, das die westliche Welt gebaut und geformt hatte, schien immer mehr seine prägende Kraft zu verlieren… Das Empfinden für diesen Gegenwartsverlust des Christentums und für die Aufgabe, die daraus folgte, war sehr genau zusammengefasst in dem Wort ‚aggiornamento‘. Das Christentum muss im Heute stehen, um Zukunft formen zu können… Dies war zugleich die Größe und die Schwierigkeit der Aufgabe, vor der die Kirchenversammlung stand.“
„In demütiger Weise will der Nachfolger von Petrus und Paulus sich an alle seine Kinder in jedem Land wenden, in Orient und Okzident, in jedem Ritus, jeder Sprache… Ein einziger Chor erhebt sich mächtig, harmonisch, durchdringend: Lumen Christi, Deo gratias. Dieses Licht leuchtet und wird in Ewigkeit leuchten: das Licht Christi, die Kirche Christi, das Licht der Völker (lumen gentium).“ „Lumen gentium“ wird später zum Titel eines der wichtigsten Texte des Zweiten Vatikanums werden.
Auffallend optimistischer Ton
Aber so weit sind wir noch nicht. Jetzt ist der 11. Oktober 1962 da; die Bischöfe sind in einer langen Prozession in den Petersdom eingezogen, und Papst Johannes erklärt, was ihn zur Einberufung dieser ehrwürdigen Versammlung bewogen hat. „Erleuchtet vom Licht des Konzils, so vertrauen Wir fest, wird die Kirche an geistlichen Gütern zunehmen und, mit neuen Kräften gestärkt, unerschrocken in die Zukunft schauen.“
Es ist ein auffallend optimistischer Ton, den der greise Papst anschlägt. Kein Gejammer darüber, dass die Welt nicht so ist wie sie sein sollte. Stattdessen Signale zum Aufbruch und eine ausdrückliche Absage an Unglückspropheten.
„In der täglichen Ausübung Unseres apostolischen Hirtenamtes geschieht es oft, dass bisweilen Stimmen solcher Personen unser Ohr betrüben, die zwar von religiösem Eifer brennen, aber nicht genügend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge noch ein kluges Urteil walten lassen. Sie meinen nämlich, in den heutigen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft nur Untergang und Unheil zu erkennen. Sie reden unablässig davon, dass unsere Zeit im Vergleich zur Vergangenheit dauernd zum Schlechteren abgeglitten sei… Wir aber sind völlig anderer Meinung als diese Unglückspropheten, die immer das Unheil voraussagen, als ob die Welt vor dem Untergange stünde. In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse, durch welche die Menschheit in eine neue Ordnung einzutreten scheint, muss man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen. Dieser verfolgt mit dem Ablauf der Zeiten, durch die Werke der Menschen und meist über ihre Erwartungen hinaus sein eigenes Ziel, und alles, auch die entgegengesetzten menschlichen Interessen, lenkt er weise zum Heil der Kirche.“
„Die Lehre so auslegen, wie unsere Zeit es verlangt“
„Heiter und ruhigen Gewissens“ sollten die Konzilsväter daher sein. Um eine Veränderung der Lehre gehe es nicht, im Gegenteil, die Kirchenversammlung solle „die katholische Lehre rein, unvermindert und ohne Entstellung überliefern“ – aber eben neu durchbuchstabiert, auf heutige Sensibilitäten hin. „Ja, diese sichere und beständige Lehre, der gläubig zu gehorchen ist, muss so erforscht und ausgelegt werden, wie unsere Zeit es verlangt. Denn das eine ist das Depositum Fidei oder die Wahrheiten, die in der zu verehrenden Lehre enthalten sind, und etwas anderes ist die Art und Weise, wie sie verkündet werden…“
Im Rückblick kann einem der Elan, mit dem der Papst ein neues Pfingsten heraufziehen sieht, zu Herzen gehen. Johannes XXIII. hat in diesem Moment keine acht Monate mehr zu leben. „Mit dem beginnenden Konzil hebt in der Kirche ein Tag strahlenden Lichtes an. Noch ist es wie Morgenröte, und schon berühren die Strahlen der aufgehenden Sonne Unser Herz.“
Am Ende der Feier in St. Peter wird die erste Arbeitssitzung für nächsten Samstag, den 13. Oktober, angekündigt. Keiner ahnt in diesem Augenblick, dass es an diesem Samstag eine Art Aufstand der Konzilsväter gegen die von der Kurie vorbereiteten Texte geben wird. Und dass das Konzil nicht nur ein paar Monate dauern wird, sondern mehr als drei Jahre. Aber das ist eine andere Geschichte…
(vatican news)
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