Türkei/Griechenland: „Ausmaß der Flüchtlingskrise noch nicht abschätzbar“
3,6 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei
An diesem Sonntag hatte auch Papst Franziskus beim Mittagsgebet seine Sorge über die Situation der Kriegsvertriebenen geäußert, ohne jedoch Syrien ausdrücklich zu nennen. In der nordwestlichen syrischen Provinz Idlib, in der vor dem Ausbruch des Konfliktes rund 1,6 Millionen Menschen lebten, sind derzeit über eine Millionen Binnenvertriebene den Bomben der Türkei als auch Russlands und des Assad-Regimes ausgesetzt und versuchen, auf türkisches Gebiet zu entkommen.
„Wir sehen uns mit einer sowohl politischen als auch humanitären Katastrophe konfrontiert, in einem Ausmaß, von dem noch schwierig abzuschätzen ist, wie es sich in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln wird“, meint Christopher Hein, der Asyl- und Migrationsrecht an der Universität LUISS in Rom lehrt. „Die Türkei hat jetzt gesagt, die Grenzen öffnen, das Abkommen vom März 2016 mit der EU und Griechenland nicht mehr respektieren zu wollen und die Flüchtlinge bis zur Flussgrenze mit Bulgarien und Griechenland durchzuwinken. Da wird mit teilweise übertriebenen Zahlen gearbeitet: der türkische Innenminister sprach von über 70.000 Flüchtlingen, die bereits diese Grenzen überschritten hätten, was sich aber bis jetzt nicht bestätigt hat. Das kann in den kommenden Tagen aber durchaus geschehen, die Lage ist dramatisch, weil diese Nachricht, dass man jetzt endlich die Türkei leichter verlassen und über die Grenze Richtung Europa auswandern kann, sich innerhalb der Riesenzahl von syrischen Flüchtlingen verbreitet. Man spricht von 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei.“
Griechenland setzt Asylrecht aus
Die griechischen Grenzbehörden versuchen unterdessen auch unter Einsatz von Tränengas, den Übertritt der Flüchtlinge auf griechisches Gebiet zu verhindern. Zahlreiche Menschen, darunter auch Familien mit kleinen Kindern, campieren bei bitterkalten Temperaturen in den Wäldern rund um die Grenzübergänge, die Situation ist angespannt.
„Auf der anderen Seite hat der griechische Premierminister sowohl das Asylrecht für einen Monat ausgesetzt als auch ganz von Abschreckungsmaßnahmen gesprochen, damit die Menschen eben nicht über die Grenze nach Griechenland kommen“, erläutert Hein. „Eine Aussetzung des Asylrechts ist in keiner internationalen oder EU-Gesetzgebung vorgesehen, das hat es bisher auch nie gegeben, dass ein Land einfach sagt, keine Asylbewerber mehr zu akzeptieren.“
Wie nun auf europäischer Seite weiter vorzugehen sei, sei auf jeden Fall nicht nur eine humanitäre, sondern vor allem auch politische Frage, gibt Hein zu bedenken. Auch der Hochkommissar der Vereinten Nationen Filippo Grandi hatte bereits davor gewarnt, dass humanitäre Hilfe nur eingeschränkt erfolgen könne, solange die Bombardierung von Idlib und der gesamten Region anhalte.
„Was ist nun seitens der EU zu tun? In erster Linie kann Griechenland natürlich nicht alleine gelassen werden. Ein erster Punkt wäre, zu sagen, das die bereits in den Lagern auf griechischen Inseln anwesenden Flüchtlinge, angefangen von Lesbos, weggeschifft werden müssen, und zwar sehr schnell. Denn die Lage ist dermaßen explosiv geworden, dass das Überleben der Menschen und sogar der Mitarbeiter von nichtstaatlichen Einrichtungen und Journalisten dort gefährdet ist. Das heißt, es muss jetzt sehr schnell ein Schlüssel der Verteilung auf andere EU-Länder erfolgen.“
Syrien-Gipfel mit Türkei und Russland dringend nötig
Doch genau müsse klar werden, dass auch die Türkei Unterstützung dabei benötige, dem Flüchtlingsansturm Herr zu werden, betont Hein weiter: „Das bedeutet eine internationale Solidarität nicht nur der Europäischen Union, auch von anderen Ländern, auf die diese Flüchtlinge umverteilt werden müssten. Das Ganze ist aber natürlich unter dem Schatten einer Fortsetzung des Krieges und Bürgerkrieges in der Region, in Syrien, und daher ist es notwendig, diese geplante Konferenz zwischen Deutschland, Frankreich, Türkei und natürlich Russland abzuhalten, damit sofort eine politische Lösung ins Auge gefasst wird.“
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte dieses multilaterale Treffen für den 5. März angekündigt. Hein ist – im Einklang mit zahlreichen anderen europäischen Institutionen – der Ansicht, dass es notwendig ist, die europäische Asylpolitik im Ganzen neu zu überdenken, wie er unterstreicht: „Viele haben schon damals gesagt, 2016, wir haben der türkischen Regierung und Erdogan eine Trumpfkarte in die Hand gegeben, in jedem Augenblick kann er das nutzen, um Europa politisch unter Druck zu setzen, indem er die Grenzen Richtung Griechenland und Bulgarien öffnet. Und genau das ist das, was jetzt geschieht.“
Dabei sei nicht nur die Vereinbarung mit der Türkei, sondern auch mit anderen Drittstaaten wie Libyen ins Auge zu fassen, gibt Hein zu bedenken: „Und das bedeutet auch eine solidarische Aufnahme, aber nicht nur auf zwei oder drei Länder verteilt, wie in der Vergangenheit, sondern wirklich verteilt auf die gesamte Europäische Union. Es ist mir klar, dass der politische Wille dafür im Augenblick nicht sehr groß ist, aber es gibt gar keine andere Lösung dafür, weil sich Europa sonst verantwortlich macht für das Drama, welches sich in diesem Augenblick dort abspielt.“
(vatican news - cs)
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