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Proteste in den Niederlanden Proteste in den Niederlanden 

Niederlande: Dann „komt het goed“

Trotz steigender Neuerkrankungen ist es in diesen Tagen in den Niederlanden zu Krawallen gegen die Corona-Maßnahmen gekommen. Der Theologe Jan Loffeld wohnt in Utrecht und sieht die niederländische Mentalität als mögliche Erklärung für die Proteste. Unsere Kollegen vom Kölner Domradio sprachen mit ihm darüber.

DOMRADIO.DE: Die Inzidenzwerte in den Niederlanden sind viel höher als in Deutschland. Warum gibt es trotzdem so viele Proteste gegen die Corona-Maßnahmen?

Prof. Dr. Jan Loffeld (Pastoraltheologe in Utrecht): Ich glaube, man muss ein wenig den Weg der Niederlande während des letzten Jahres sehen. Das Virus ist im Süden der Niederlande aufgetaucht. Es ist wahrscheinlich auch von da, wo Karneval gefeiert wird, vielleicht auch aus Deutschland, rübergekommen. Es gab damals einen bissigen Kommentar in einer Zeitung, weshalb man dachte, dass es eher eine Art katholischer Virus wäre, weil die Katholiken, die vorwiegend im Süden des Landes wohnen, Karneval feiern.

Hier hören Sie das gesamte Interview mit Prof. Dr. Jan Loffeld

Allerdings hat man das ganze Ausmaß, wie auch in anderen Ländern, glaube ich, unterschätzt. Es gibt diese schöne Szene bei der Pressekonferenz mit Mark Rutte (Ministerpräsident der Niederlande, Anm. d. Red.), wo er die ersten Corona-Maßnahmen verkündet hat und nachher seinem Kollegen die Hand gibt. Das ist nochmal ein Beispiel dafür, dass man selbst noch nicht realisiert hatte - wie in anderen Ländern auch -, wie ernst es ist.

Proteste in Amsterdam: Von Angesicht zu Angesicht
Proteste in Amsterdam: Von Angesicht zu Angesicht

Ich glaube, das hat etwas mit der Mentalität der Niederländer zu tun, dass sie als eigentlich traditionell calvinistisch geprägtes Volk sehr stark auf den individuellen Weg des einzelnen Menschen Wert legen. Der Einzelne übernimmt Verantwortung für sich, für sein Leben und sein Schicksal. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist etwa, dass circa 80 Prozent der Niederländer eine Eigentumswohnung haben und diese auch weitgehend selber her- und einrichten. Wo wir Deutschen eine Firma rufen würden, machen Holländer vieles selber. Die Kultur ist also hier viel mehr auf ein "Do it yourself" ausgerichtet als in Deutschland.

Und genau dieses Konzept sollte auch für Corona gelten. Der Einzelne sollte schauen und Verantwortung übernehmen. Das nannte man dann im Frühjahr einen "intelligenten Lockdown". Zusehends merkte man jedoch, dass das nicht funktioniert.

„Hier zeigt sich nochmal der Unterschied der konfessionellen Prägung, dass in klassisch-katholischeren Ländern der Staat offenbar immer noch eine andere Rolle und Autorität hat.“

Ich glaube, dass sich diese Verunsicherung der bisher erprobten und wirksamen kulturellen Strategien unter anderem in den Krawallen als Blitzableiter entlädt. Eine Ausgangssperre ist – würde ich sagen – für manche Niederländer ein bisher unbekannter Eingriff in die persönliche Freiheit, wie übrigens auch das "mondkapje" der Mund-Nasen Schutz. Beides musste vor der Einführung juristisch geklärt werden. Hier zeigt sich nochmal der Unterschied der konfessionellen Prägung, dass in klassisch-katholischeren Ländern der Staat offenbar immer noch eine andere Rolle und Autorität hat. Insgesamt tragen die meisten Niederländer diese Maßnahmen jedoch mit. 

DOMRADIO.DE: Man hat den Eindruck, dass die niederländische Gesellschaft sehr erschrocken über diese Art von Krawallen ist. Wie haben die Menschen in ihrem Umfeld auf diese Unruhe reagiert?

Loffeld: Der Schock ist tatsächlich deutlich sichtbar. In Talkshows zum Beispiel hört man die Statements: "Das sind nicht mehr die Niederlande, so wie wir sie kennen, so wie wir sie wollen". Die Leute sind eher gewohnt, dass man einen Kompromiss findet und man nicht direkt drauflosgeht. Man erschreckt sich derzeit über sich selbst und gleichzeitig relativiert man hier und da mit Verweisen auf andere Länder.

Damit will man offenbar zeigen, dass man insgesamt Anteil an übernationalen Prozessen hat. Aber jetzt selbst doch so aktiv darin involviert zu sein, darüber erschreckt man sich, weil immer gedacht wurde, man wäre doch ein bisschen anders und ein bisschen toleranter. Man will die Dinge hier anders lösen, nicht auf die harte Art.

Gestern Abend hörte ich zum Beispiel einen Radiokommentar. Darin war wieder typisch niederländisch auch ein Verständnis für die jungen Leute rauszuhören bei Sätzen wie: "Die haben ja nichts mehr vom Leben". Meine Nachbarin erzählte heute sogar, wie ihr die jungen Leute eigentlich leidtun.  

Auch viele junge Menschen nehmen an den Protesten teil
Auch viele junge Menschen nehmen an den Protesten teil

DOMRADIO.DE: Die vergangene Nacht war relativ ruhig. Hauptargument für die Krawalle war die Ausgangssperre. Wie streng erleben Sie selbst die aktuellen Corona-Maßnahmen?

Loffeld: Ganz anders als in Deutschland. Ein Beispiel: Über Weihnachten musste ich in Quarantäne. In Deutschland bekam ich dafür eine Ordnungsverfügung von der Wohnortkommune. Weil ich zwei Wohnsitze habe, waren die Niederländer auch informiert worden und die zuständige Behörde hat daraufhin angerufen. Sie haben auf die Mailbox gesprochen, dass ich mit einem Corona-Infizierten in Kontakt gewesen sei, mehr nicht. Es wurde weder kontrolliert, noch gab es eine Ordnungsverfügung.   

DOMRADIO.DE: Glauben Sie denn, dass nach diesen Krawallen die Menschen jetzt vorsichtiger werden und sich wirklich an die Maßnahmen halten? Oder befürchten Sie, dass es mit den Krawallen so weitergehen wird?

Loffeld: Das ist schwer zu sagen. Es gibt in der Bevölkerung eine sehr große Solidarität. In den Sozialen Medien haben sich mittlerweile Gruppen gegründet, die einen Fond aufbauen wollen, um den Geschäftsleuten beim Wiederaufbau zu helfen.

Ich kann es auch schwer einschätzen, weil die Gruppe der Jüngeren sehr heterogen ist. Manche hoffen, dass sich die jungen Leute abreagiert haben und jetzt wieder alles in die etwas normalere Spur zurückkommt. Das Motto dieser Zeit steht an jeder Autobahn in Leuchtschrift: „Zusammen kriegen wir Corona unter Kontrolle“. Also, wir achten alle darauf, jeder für sich und so alle gemeinsam. Dann „komt het goed“, wird also sicher gut.

Das Interview führte Mathias Peter.

(domradio – mg)

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28. Januar 2021, 11:38