Missbrauchsüberlebende bei Papst Leo: „Entschlossene Zeichen“
Anne Preckel – Vatican News
Die zweite Romfahrt von Missbrauchsüberlebenden aus dem Erzbistum München und Freising stand unter dem Motto „Here we are – Pilger der Hoffnung“. An diesem Mittwoch sprachen die fünf Pilger mit Papst Leo am Ende der Generalaudienz und übergaben ihm auf dem Petersplatz einen Brief mit konkreten Erwartungen, die sie für den kirchlichen Umgang mit Missbrauchsverbrechen haben.
Pilger tragen viele Leiderfahrungen nach Rom
„Nur sehr wenige Überlebende erlangen Sprachfähigkeit. Wir sind diejenigen, die das geschafft haben, nach einem jahrelangen Prozess, die jetzt Gesicht zeigen. Wir repräsentieren also all diese unausgesprochenen, diese nicht sprachfähigen Betroffenen“, hob ein Teilnehmer im Interview mit Radio Vatikan hervor. Das Thema Missbrauch sei mit großer Scham besetzt, wichtig sei jedoch, „dass die Scham die Seite wechselt", so der Mann mit Verweis auf eine Formulierung, die die französische Missbrauchsüberlebende Gisèle Pelicot prägte: „Also, nicht wir müssen uns schämen dafür, dass wir missbraucht worden sind, sondern diejenigen müssen sich schämen, die eben nicht hingeschaut haben, die die Täter geschützt haben. Da ist nach unserer Auffassung noch Luft nach oben. Und da ist natürlich hilfreich, wenn wir die Unterstützung vom Papst haben.“
Die Gruppe übergab dem Papst einen Brief, in dem sie sechs Felder benennen, in denen sie in Papst Leos Amtszeit auf „entschlossene Zeichen“ hoffen: „Zentrierung der Betroffenen“, „Transparenz und Aufarbeitung“, „Unabhängigkeit der Verfahren“, „konsequente Verantwortung“, „Reformen in Ausbildung und Machtstrukturen“ und „Zeichen der Hoffnung“. Papst Leo solle sichtbar machen, „dass die Kirche ihre Schuld erkennt und den Weg der Umkehr ernsthaft geht“, heißt es in dem einseitigen Schreiben. Vertuschung dürfe niemals ohne Folgen bleiben, Archive und Akten über Missbrauchsfälle sollten zugänglich sein und Aufarbeitung wirklich unabhängig stattfinden. Auch brauche es mehr Laien und Frauen in Leitungsaufgaben sowie eine Kultur des Hinsehens, Zuhörens und der Anerkennung von Leid. Es brauche eine Kirche, „die glaubwürdig für das Evangelium Jesu Christi einsteht“ – dafür solle sich der Papst einsetzen.
Aufstehen, auferstehen
Im Gespräch mit Radio Vatikan hob eine Teilnehmerin der Gruppe aus dem Erzbistum München und Freising hervor, sie wünsche sich „mehr Sensibilität für jegliche Form von Missbrauch“ im Raum der Kirche. Dort, wo Machtgefälle bestünden, sei Missbrauch möglich; gerade die Kirche mit ihrem hohen moralischen Anspruch brauche dieses Bewusstsein für „viele verschiedene Formen von Missbrauch“. Ein weiterer Pilger ging auf Papst Leos Katechese bei der Generalaudienz ein. „Der Papst sagte, ,Auferstehung ist da, wo wir Sinn im Leben erfahren, das kann auch in schweren Zeiten sein'. Er sagte auch: ,Keine Wunde wird ewig bleiben' - und dafür sind wir auch da, dass die Wunden der Missbrauchten nicht ewig bleiben. Das können wir uns nicht nur vom Himmel erwünschen, sondern dass müssen wir schon selber tun, dass das Wirklichkeit wird. - Finde ich gut." Ein weiterer Pilger schilderte gegenüber Radio Vatikan offen die Auswirkungen des erlebten Missbrauchs auf sein Leben; wie viele andere auch habe er Jahrzehnte gebraucht, um über das Erlebte zu sprechen. Diese Verarbeitung sei bis heute nicht abgeschlossen, bei den Begegnungen mit Papst Franziskus (Mai 2023) und jetzt Papst Leo sei es ein wenig so gewesen, als ob sich „seine Seele geöffnet“ habe.
Die persönliche Begegnung mit dem Papst erlebten die Pilger insgesamt als wohltuend, wie sie gegenüber Radio Vatikan schilderten. Papst Leo hätten sie als unterstützend und zugewandt erlebt, er habe signalisiert: „Ich gehe an eurer Seite“, berichtete einer der Teilnehmer, der das Treffen als „erhebend“ beschrieb. „Diese Reise ist weit mehr als nur ein Weg. Sie ist ein Zeichen der Hoffnung, für uns und für alle anderen Betroffenen. Sie soll zum Zusammenhalt und vor allem zur inneren Heilung beitragen“, betonte Richard Kick, der Sprecher des Betroffenenbeirates, mit Blick auf die Pilgerfahrt nach Rom, wie er in der Presseerklärung zur Reise der Erzdiözese formulierte. In Sachen Missbrauch im Raum der Kirche habe Papst Leo „die Situation analysiert und weiß darum fast seit Jahrzehnten. Und er hat uns auch dazu aufgefordert, oder er hat sich bedankt bei uns, dass wir da mittun. Also, dass wir auch diejenigen sind, die nicht gegen Kirche arbeiten, sondern mit Kirche“, ergänzte er gegenüber Radio Vatikan.
Anliegen des Betroffenenbeirates sei es auch, dass Thema stärker in die Gesellschaft hineinzutragen, machte die Gruppe weiter deutlich, Überlebende hätten einen „prophetischen Auftrag". Es gehe den Überlebenden auch darum, dass der Staat stärker in die Verantwortung geht und Missbrauch entschiedener aufarbeitet. Wie Sprecher Kick berichtet, habe der Unabhängige Betroffenenbeirat eine entsprechende Petition in den bayrischen Landtag eingebracht.
Austausch mit anderen Betroffenen
Die erste Station der Reise führte die Teilnehmer am Sonntag, 5. Oktober, in die an der Europabrücke der Brenner-Autobahn, Ausfahrt Schönberg, gelegene Europakapelle, wo sie eine Andacht feierten. In Bozen tauschten sie sich am Sonntagnachmittag und Montagvormittag mit weiteren Betroffenen sexuellen Missbrauchs über Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt aus.
Am Donnerstag ist das Durchschreiten der Heiligen Pforte in der Basilika San Giovanni in Laterano geplant und der Besuch des Grabes von Papst Franziskus in der Basilika Santa Maria Maggiore. Am Freitag und Samstag steht unter anderem eine Begegnung mit Peter Beer auf dem Programm, ehemaliger Generalvikar der Erzdiözese von München und Freising, mittlerweile Professor am „Institut für Anthropologie – Interdisziplinäre Studien zu Menschenwürde und Sorge für schutzbedürftige Personen“ (IADC) der Universität Gregoriana und Vorsitzender des Stiftungsbeirats der Stiftung „Spes et Salus“. Daneben werden sich die Betroffenen mit dem Leiter des „Instituts für Anthropologie“, Pater Hans Zollner SJ, austauschen.
Finanziert wird die vom Betroffenenbeirat organisierte Reise durch die Stiftung „Spes et Salus“, die der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, ins Leben gerufen hat, um das kirchliche Engagement in der Aufarbeitung von Missbrauch und der Unterstützung von Betroffenen weiter zu stärken. Die erste Reise nach Rom hatte eine Gruppe von Missbrauchsbetroffenen aus dem Erzbistum München und Freising im Mai 2023 mit dem Fahrrad unternommen - und dort Papst Franziskus getroffen. Im Juni 2024 war eine Gruppe von Missbrauchsbetroffenen durch den Südosten des Erzbistums München und Freising mit dem Rad gefahren. Bei der aktuellen Reise sind Überlebende dabei, die schon teilnahmen, aber auch neue Teilnehmer.
(vatican news – pr)
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