Buchtipp: Die Wunde, die man nicht berühren durfte
Sein 1887 erstmals veröffentlichter Roman „Noli me tangere“ (Rühre mich nicht an) war mehr als nur Belletristik; er war eine literarische Bombe, die den spanischen Kolonialherren auf den Philippinen die Lunte legte. Nun erscheint dieses epochale Werk in einer neuen deutschen Übersetzung von Annemarie del Cueto-Mörth und beweist eindrücklich seine zeitlose Relevanz.
Ein Idealist im Angesicht der Korruption
Der Roman beginnt mit der Rückkehr des jungen, idealistischen Juan Crisóstomo Ibarra. Nach sieben Jahren Studium in Europa kehrt er voller Erneuerungsgeist und im Liebesrausch für die schöne María Clara in seine Heimat zurück. Doch die glänzenden Hoffnungen des aufgeklärten Heimkehrers zerbrechen schnell an einer brutalen Realität: Seine geliebte Gesellschaft ist „zerfressen von Korruption, Unterdrückung und religiösem Dogmatismus“.
Rizal entfaltet ein opulentes Panorama des philippinischen Lebens Ende des 19. Jahrhunderts. Die eigentlichen Zügel der Macht hält nicht die spanische Zivilverwaltung, sondern ein machtbesessener katholischer Klerus. Ibarras aufrichtiges Vorhaben, eine moderne Schule zu gründen, wird zum Katalysator, der die tiefen Risse zwischen Kirche, Gouverneuren und dem einfachen Volk offenbart. Was als private Fehde mit dem rachsüchtigen Gemeindepfarrer beginnt, eskaliert zu einer infernalen Intrige, die Ibarra in den Untergang zu reißen droht. Erst als seine Verlobte María Clara sich unter dem Druck der Umstände von ihm abwendet, erkennt Ibarra das wahre Ausmaß und die tödliche Macht seiner Gegner.
Die spirituelle und klerikale Tragödie der Philippinen
Die literarische Bedeutung von „Noli me tangere“ liegt nicht nur in seiner erzählerischen Wucht und seinem feinen Humor, sondern vor allem in seiner Funktion als unzensiertes Sittenbild der Kolonialzeit. Für das Verständnis der spirituellen und kirchlichen Entwicklung der Philippinen ist das Werk unverzichtbar.
Rizal klagt nicht den christlichen Glauben an sich an, sondern dessen klerikale Perversion. Er beleuchtet schonungslos, wie die Religion, anstatt Trost und Gerechtigkeit zu spenden, zum Instrument der Versklavung, der Ausbeutung und der moralischen Verrohung wird. Die Macht der spanischen Mönchsorden reichte weit über die Sakristei hinaus in die Gerichte, die Verwaltung und sogar die intimsten Lebensbereiche. Durch Figuren wie den fanatischen Pfarrer Damaso prangert Rizal die Heuchelei, die Gier und die sexuelle Ausbeutung des Klerus an den einfachen, gläubigen Filipino-Familien an.
Der Roman machte die schmerzhafte Wahrheit sichtbar, dass die Kirche, die einst die Zivilisation gebracht hatte, nun der größte Blockierer von Fortschritt, Bildung und nationaler Identität war. Diese schonungslose Kritik mobilisierte die aufstrebende philippinische Intelligenz und legte den ideologischen Grundstein für die spätere Unabhängigkeitsbewegung.
„Rühre mich nicht an“ – Eine offene Wunde
Der Titel des Romans, „Noli me tangere“, ist tief symbolisch. Er entstammt der lateinischen Vulgata-Übersetzung des Johannesevangeliums (Joh 20,17 EU) und ist der Ausspruch Jesu an Maria Magdalena nach seiner Auferstehung: „Rühre mich nicht an“ oder „Berühre mich nicht“.
In Rizals Kontext kann der Satz als doppelte Mahnung gelesen werden: Er warnt die Kolonialmacht davor, die offenen, eitrigen Wunden der philippinischen Gesellschaft – Armut, Unwissenheit, Korruption – weiter zu berühren, da sie sonst zu einem gefährlichen Aufstand führen. Gleichzeitig impliziert er, dass das neue, revolutionäre Bewusstsein der Filipinos nicht mehr von den Fesseln der alten kolonialen und klerikalen Macht festgehalten werden kann.
Mit seiner erzählerischen Opulenz und seinem unhintergehbaren Glauben an die Menschlichkeit, der selbst im Angesicht der Tragödie leuchtet, strahlt „Noli me tangere“ weit in die Gegenwart hinein. José Rizal bezahlte seine Veröffentlichung mit dem Leben, doch sein Buch bleibt ein Meilenstein der Widerstandsliteratur und ein Pflichtwerk für jeden, der die komplexe Verflechtung von Glaube, Macht und Kolonialgeschichte verstehen will.
Zum Mitschreiben
José Rizal: Noli me tangere. Roman. Aus dem phlippinischen Spanisch von Annemarie del Cueto-Mörth, erschienen im Verlag Insel 2025. ISBN: 978-3-458-64546-7.
Eine Rezension von Mario Galgano.
(vatican news)
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