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„Die Nulllinie“ von Twardoch: Ein existenzieller Wurf aus der Hölle des Donbass „Die Nulllinie“ von Twardoch: Ein existenzieller Wurf aus der Hölle des Donbass  (ANSA)

Buchtipp: Wo Zivilisation und Hoffnung auf Null gesetzt werden

Von der Hölle zur Literatur: Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch, nominiert für den SPIEGEL Buchpreis 2025, hat mit „Die Nulllinie“ ein Buch zur Stunde geschaffen. Als einer der wenigen westlichen Autoren fuhr der Autor aus Schlesien wiederholt an die Front in der Ukraine.

Die dort gesammelten Eindrücke von Schrecken, Grauen und stiller Hoffnungslosigkeit hat Twardoch in einen fiktionalen Roman von bestechender Authentizität und epischer Wucht verwandelt. Szczepan Twardoch, der seit seinem Durchbruch 2012 mit „Morphin“ (ausgezeichnet u. a. mit dem Polityka-Passport-Preis) zu den wichtigsten literarischen Stimmen Osteuropas zählt, schreibt damit erneut über den Krieg. Doch dieses Mal ging er buchstäblich an die Grenzen: Er lieferte Hilfsgüter ab und saugte Eindrücke im „Fleischwolf“ des Donbass auf. Aus diesen Erlebnissen ist ein Roman entstanden, der den Geist der großen Kriegsromane von Remarque, Jünger oder Hemingway atmet.

Das Buch ist jetzt auf Deutsch erschienen
Das Buch ist jetzt auf Deutsch erschienen

Zwischen Korruption und Verzweiflung

Protagonist ist Koń, ein Pole ukrainischer Abstammung, der sich freiwillig zur ukrainischen Armee meldet. Schnell prallt er auf die deprimierende Wirklichkeit: den krassen Gegensatz zwischen dem reichen Kyjiw und dem desolaten Donbass, die Kluft zwischen offiziellen Durchhalteparolen und den wahren Zuständen der Armee, geprägt von Gleichgültigkeit und Vetternwirtschaft. Die Soldaten an der Front schimpfen ohne Ausnahme auf die mangelhafte Ausrüstung und haben für Präsident Selenskyj im fernen Kyiv nur Hohn und Spott.

Koń und seine Gefährten sind in einem vom Dnipro abgeschnittenen Flecken Erde an der vordersten Front – der „Nulllinie“ – stationiert. In dieser Welt an der „Nulllinie“, auch im metaphorischen Sinn, ist alles auf Null gesetzt: die Zivilisation, die Menschlichkeit, der Glaube an die Zukunft.

Ukrainische Soldaten
Ukrainische Soldaten

Die Du-Perspektive der Brutalität

Die Darstellung des brutalen Tötens, Leidens und Sterbens, das Koń in Kälte, Schlamm und Nässe in jämmerlichen Unterständen erlebt, ist schonungslos. Twardoch bedient sich eines vulgären Soldatenslangs, der die Unmenschlichkeit dieser Welt noch verstärkt.

Literarisch hebt sich der Roman durch seine Erzähltechnik ab. Twardoch wählt zwei Perspektiven: Koń erzählt einerseits, doch immer wieder wendet sich eine zweite Stimme direkt an den Erzähler selbst – in der Du-Form. Dieser Kunstgriff zieht die Leser unmittelbar ins Geschehen: „Du zielst tief, willst den Bauch unterhalb der Schutzweste treffen, du schiesst gut und bist ruhig, deshalb triffst du.“ Diese verwirrende Dynamik passt perfekt zum ohnmächtigen Getümmel des Kriegsgeschehens.

Geschwisterlichkeit und Mut bekommen an der Nulllinie eine neue, existenzielle Bedeutung; Vernunft weicht der Intuition; die einzige Verbindung zur alten Welt ist das Internet über Starlink.

Ukrainischer Soldat
Ukrainischer Soldat

Wenn Hoffen tödlich ist

Im philosophischen Kern ist „Die Nulllinie“ eine existenzielle Reflexion über Gewalt, Mut, Freiheit und das Menschsein. Koń denkt an seinen Großvater, der im Weltkrieg kämpfte, sucht Ablenkung bei seiner Geliebten Zuya – und ahnt, dass dieser Krieg für ihn nie enden wird.

Einer der Soldaten an der Front ist überzeugt, es gebe nur einen Weg, die Hölle psychisch zu durchstehen: sich keine Überlebens-Hoffnung zu machen. „Wenn jemand das Kriegsende erleben will“, sagt der Mann, „dann wird der Krieg unerträglich, … besser nicht zu leben, als auf ein Leben nach dem Krieg zu warten.“

Die philosophische Wucht des Romans erinnert an Thukydides: Der Krieg ist hier ein Lebensthema, ein Menetekel für ein von Gewalt gezeichnetes 21. Jahrhundert. Das Überleben ist ein Zufall, der durch eine einzige Tatsache definiert wird: „Die Grube nicht getroffen. Das ist das Einzige in der ganzen Welt, in ihrer ganzen, über Jahrtausende, Millionen Jahre sich erstreckenden Geschichte, was Bedeutung hat. Eure Grube nicht getroffen.“

Twardochs Roman ist ein literarischer Wurf auf höchstem Niveau. Indem er das Wahre des Realen in die Wahrhaftigkeit der Literatur transformiert, gelingt es ihm fulminant, den ewigen Widerspruch zwischen dem ideologischen Überbau des Krieges und dem Einzelschicksal der Menschen darzustellen. Ein beklemmendes, notwendiges und leider aktuelles Buch.

Zum Mitschreiben

Szczepan Twardoch: Die Nulllinie. Roman aus dem Krieg. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Rowohlt Berlin 2025. ISBN 978-3-7371-0209-4

Eine Rezension von Mario Galgano.

(vatican news)

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15. Dezember 2025, 12:14