Unser Sonntag: Der Bettler
Weihbischof Dr. Christoph Hegge
Mt 1,18-24
4. Adventssonntag (A)
Unmittelbar vor Weihnachten hören wir im Evangelium des 4. Adventssonntags von der Vision des Josef, dem Verlobten Marias, die ihn im Traum zuteilwird: Das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist und Josef soll ihm den Namen Jesus geben, was übersetzt heißt: Gott rettet. Denn, so sagt der Engel in der Vision, „er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (Mt 1, 21).
Eintritt Gottes in die Geschichte
Was beim Propheten Jesaja angekündigt ist, finden wir im Evangelium bei Matthäus als Anbruch der Erfüllung des Eintritts Gottes in die Geschichte der Menschheit, ein wirklicher Wendepunkt, eine wirkliche Zeitenwende, die jedoch nichts von ihrer Kontinuität zur Verheißung an das auserwählte Volk Israel verliert. Denn Josef, der mit Maria verlobt war, ist der Garant als Stammhalter aus dem Hause Davids. Er wird als der Gerechte dargestellt, und somit auch als der Sehende und von Herzen Verstehende, der das Große, das Überwältigende, das an Maria geschehen ist, in der Kraft des Heiligen Geistes annimmt und sich ganz in den Dienst der Auserwählung der Jungfrau Maria und der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus stellt.
Konkret im Kind von Bethlehem
Der überwältigende Abstieg des dreifaltigen Gottes in die Geschichte der Menschheit in der Kraft des Heiligen Geistes wird so konkret im Kind von Bethlehem, dass sich die erwartete Verheißung des Messias in der Armut eines wehrlosen Kindes am Rand der Zivilisation in einer Höhle von Bethlehem und in drastischer Armut ereignet. So konkret von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus berichtet wird, so universal ist Gottes Heilsangebot für alle Menschen, die sich ihrer eigenen Armut und Erlösungsbedürftigkeit bewusst werden.
Der Bettler von Ernst Barlach
Diese Armut und Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit, in die hinein Jesus Christus Mensch wird, kommt mir in besonderer Weise in der Skulptur „Der Bettler“ von Ernst Barlach entgegen, die seit einigen Jahren im Kreuzgang des Münsteraner Doms steht. Der Künstler schuf die 2,17 Meter große Bronzeskulptur im Jahr 1930 für die Fassade der Katharinenkirche in Lübeck und die sie gelangte durch eine Schenkung an den St.-Paulus-Dom. Ein Bettler auf Krücken, abgemagert, den Blick nach oben gerichtet, erwartungsvoll, mit einem offenen Mund.
Die Skulptur Barlachs hält uns einen Spiegel vor. Wir können uns in ihr wiedererkennen. Sie ist wie der in Bronze gegossene, geronnene Zustand unseres gesamten irdischen Lebens.
Der Bettler, der Mensch, wir: zurückgeworfen auf die kalte Existenz: gebrechlich, verwundbar, angewiesen auf Krücken.
Der Mensch am Ende seiner eigenen Möglichkeiten: einsam, dem Tod geweiht, erdrückt durch eine Welt, in der jeder nur sich selbst der Nächste ist.
Der Mensch, reduziert auf das, was er sich zutiefst ersehnt: gesehen und angesprochen, umarmt und geliebt zu werden.
Der Bettler, der Mensch, wir: nur noch ein sehnsuchtsvoller Blick nach oben, ein offener Mund, eine Frage: Wo ist Erlösung, wo Heilung und Heil? Wer wird unser Leben, unsere Zukunft sein?
Die christliche Antwort auf unsere „Bettlerexistenz“ in dieser Welt schließt an die Messiaserwartung des Volkes Israel an. In einem alten Münsteraner Adventslied aus dem Jahr 1830 (GL 902, Verspoell) ertönt der sehnsuchtsvolle, bettelnde Anruf des Volkes Israel an den rettenden Gott:
„O komm, o komm, Emmanuel, mach frei dein armes Israel! In hartem Elend liegt es hier, in Tränen seufzt es auf zu dir. Bald kommt dein Heil: Emmanuel! Frohlock und jauchze, Israel!“
Der Messias kommt unscheinbar zur Welt
Das Unerhörte ist jedoch die Weise, wie Gott in diese Welt kommt, in welcher Gestalt der Messias erscheint. Hier überholt der christliche Glaube die alttestamentliche Messiasvorstellung eines macht- und prachtvollen Königsohns bei weitem. Denn der Messias kommt ganz unscheinbar zur Welt, als einer von uns, als nackte Existenz in einer Futterkrippe, hineingeworfen in das Wohl und Wehe des menschlichen Dramas.
Der Messias, Jesus Christus stellt sich an unsere Seite, gewissermaßen „als Bettler unter Bettlern“. Schon als Kind in der Krippe möchte er angewiesen sein auf die Liebe der Menschen, die ihn umgeben. Und sein ganzes Leben, seine Botschaft, seine Wunder, sein Leiden und schließlich sein Tod sind das große Zeugnis des Gottessohnes, der um unsere Liebe, um unsere Barmherzigkeit, unsere Bereitschaft zu Friede und Versöhnung bettelt.
Der Bettler - ein Bild des kommenden Christus
Der Bettler – ein Bild des kommenden Christus! Ein Bild des Advents Gottes, der unser Schicksal teilt, mit uns hineingeht in unser Sehnen und Suchen, in Furcht und Finsternis unseres Lebens. Jesus Christus – Gottessohn – menschlicher Bettler! Der schönste Gottesbeweis, meine ich, weil Gott in Jesus Christus uns Menschen in unserer Freiheit wirklich ernst nimmt und sich einfühlsam dort zu erkennen gibt, wo sich das Wohl und Wehe, die Lebensfülle und Sinnlosigkeit, Leben und Tod für uns entscheiden: an der Frage, ob unsere armselige Existenz im Letzten wirklich angenommen, umarmt und über unseren seelischen und physischen Tod hinaus geborgen und geliebt ist.
Advent: Ankunft Gottes
Immanuel – „Gott mit uns“ in Jesus Christus – dem Bettler. Dazu passt ein Wort des Apostels Paulus, der in seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt: „Denn ihr wisst, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.“ (2 Kor 8, 9). Das ist Advent, das ist Weihnachten: Ankunft Gottes unter unseren menschlichen Bedingungen. Gott verschenkt nicht etwas von sich, er schenkt sich selbst in Jesus Christus. Er überlässt uns in seinem Tod zugleich sein Leben. Menschen wie Barlach haben diese Dramatik menschlichen Lebens verstanden. Menschen, Christen, die wie der katholische Pater Alfred Delp und der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer den Naziterror durchlebt haben, haben die existentielle Bedeutung der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus in aller Tiefe erfahren, bis hinein in ihre eigene Hinrichtung.
Dietrich Bonhoeffer schrieb vor Weihnachten 1943 Gebete für seine Mitgefangenen, die heimlich unter ihnen verteilt wurden. In einem Gebet heißt es:
„In mir ist es finster, aber bei dir ist das Licht; ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht; ich bin kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe; ich bin unruhig, aber bei dir ist der Friede; in mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld; ich verstehe deine Wege nicht, aber du weißt den Weg für mich.“
Fragen wir uns, wenige Tage vor Weihnachten, wo Gott unter unseren manchmal ärmlichen Bedingungen, Mensch werden möchte, wo er uns begegnen und sich uns schenken möchte? Immanuel – Gott ist mit uns – Christus als Mensch unter Menschen, als Bettler unter Bettlern. O komm, o komm Emmanuel….
Bezeugen als Immanuel
Hier wird Tradition lebendig, denn nur wer in die alten Verheißungen des Volkes Israel hineingeht und die Erfüllung im neuen Bund Gottes in Jesus Christus entdeckt, für den ist Tradition nichts überkommenes, sondern lebendige Glaubenserfahrung, lebendige Geschichte Gottes mit seinem Volk. Und gestern wie heute verwandelt der auferstandene Christus in seinem Heiligen Geist die Geschichte. Er prägt sie durch Menschen, durch Heilige, durch uns, überall dort, wo wir ihn erkennen und bezeugen als Immanuel, als Gott mit uns, Gott mit dir und mit mir, Gott in Christus, lebendig inmitten der Gemeinschaften, der Gemeinden und der Kirche (vgl. Rudolf Pesch).
(Radio Vatikan - Redaktion Claudia Kaminski)
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