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Wortlaut der Generalaudienz: Der Sinn und Wert des Alters

Lesen Sie hier die Katechese, die Franziskus bei seiner Generalaudienz an diesem Mittwoch gehalten hat. Sämtliche Wortmeldungen des Papstes in offizieller deutscher Fassung finden Sie auf der Internetseite des Vatikans, www.vatican.va.

Wir haben die Katechesen über den Heiligen Josef beendet. Und heute beginnen wir eine Katechese, die sich vom Wort Gottes über die Bedeutung und den Wert des Alters inspirieren lassen will. Denken wir über das Alter nach. Seit einigen Jahrzehnten betrifft dieses Lebensalter ein wahrhaft „neues Volk“, die älteren Menschen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hat es so viele alte Menschen gegeben. Das Risiko, aussortiert zu werden, ist sogar noch größer: nie so zahlreich wie heute, nie ein größeres Risiko, aussortiert zu werden. Ältere Menschen werden oft als „Last“ angesehen. In der dramatischen ersten Phase der Pandemie waren sie es, die den höchsten Preis zahlten. Sie waren bereits der schwächste und am meisten vernachlässigte Teil der Gesellschaft: Wir haben sie schon zu Lebzeiten nicht viel beachtet, und dann haben wir sie nicht einmal sterben sehen. Ich habe hier diese Charta für die Rechte älterer Menschen und die Pflichten der Gemeinschaft gefunden – von den Regierungen herausgegeben, nicht der Kirche, es handelt sich um eine weltliche Sache. Es ist gut und interessant zu wissen, dass ältere Menschen Rechte haben. Es wird gut sein, diese Charta zu lesen.

Zusammen mit der Migration ist das Alter eines der drängendsten Probleme, mit denen die Menschheitsfamilie derzeit konfrontiert ist. Es geht nicht nur um eine quantitative Veränderung, sondern um die Einheit der Lebensalter, d.h. um den eigentlichen Bezugspunkt für das Verständnis und die Wertschätzung des menschlichen Lebens in seiner Gesamtheit. Wir fragen uns: Gibt es Freundschaft, gibt es ein Bündnis zwischen den Generationen, oder herrschen Trennung und Ausgrenzung vor?

Wir alle leben in einer Gegenwart, in der Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen nebeneinander existieren. Aber die Verhältnisse haben sich geändert: Die Langlebigkeit betrifft heute die breite Masse, und in weiten Teilen der Welt wird die Kindheit in kleinen Dosen verteilt. Wir haben ja schon über den demografischen Winter gesprochen. Ein Ungleichgewicht, das viele Folgen hat. Die vorherrschende Kultur hat als einziges Modell den jungen Erwachsenen, d. h. ein Individuum, das selbstbestimmt ist und immer jung bleibt. Aber stimmt es, dass die Jugend den vollen Sinn des Lebens enthält, während das Alter nur dessen Entleerung und Verlust bedeutet? Stimmt das? Nur die Jugend hat den vollen Sinn des Lebens, und das Alter ist die Entleerung des Lebens, dessen Verlust? Die Verherrlichung der Jugend als einziges Alter, das würdig ist, das Ideal des Menschen zu verkörpern, gepaart mit der Verachtung des Alters als Gebrechlichkeit, Verfall, Behinderung, ist das gängige Bild des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts gewesen. Haben wir das vergessen?

Pflegeprogramme, aber keine Projekte der Lebensgestaltung...

Die Verlängerung des Lebens hat strukturelle Auswirkungen auf die Geschichte von Individuen, Familien und Gesellschaften. Aber wir müssen uns fragen: Stehen ihre geistige Qualität und ihr Gemeinschaftssinn im Einklang mit dieser Tatsache? Müssen sich die älteren Menschen vielleicht für ihre Hartnäckigkeit entschuldigen, auf Kosten anderer zu überleben? Oder können sie für die Gaben, die sie für das Lebensgefühl aller Menschen mitbringen, geehrt werden? In der Tat hat das Alter in der Darstellung des Sinns des Lebens - und gerade in den so genannten „entwickelten“ Kulturen - wenig Bedeutung. Warum? Es wird als ein Alter betrachtet, das weder besondere Inhalte zu bieten hat, noch einen eigenen Lebenssinn. Darüber hinaus werden die Menschen nicht ermutigt, alte Menschen aufzusuchen, und es fehlt an Aufklärung, damit die Gemeinschaft sie wertschätzt. Kurz gesagt, für ein Alter, das heute einen entscheidenden Teil des Gemeinschaftsraums ausmacht und sich auf ein Drittel des gesamten Lebens erstreckt, gibt es, zuweilen Pflegeprogramme, aber keine Projekte der Lebensgestaltung. Pflegeprogramme ja, aber keine Projekte der Lebensgestaltung. Das ist ein Mangel des Denkens, der Phantasie, der Kreativität. Die hinter diesem Gedanken stehende Leere besteht darin, dass ältere Männer und ältere Frauen Abfallprodukte sind: In dieser Wegwerfkultur werden ältere Menschen aussortiert.

Jugend ist schön, aber ewige Jugend ist eine gefährliche Sinnestäuschung. Alt zu sein ist genauso wichtig - und schön - wie jung zu sein. Das sollten wir uns merken. Das Bündnis zwischen den Generationen, das den Menschen jedes Lebensalter schätzen lässt, ist das Geschenk, das wir verloren haben. Wir müssen es in dieser Wegwerfkultur wiederfinden, in dieser Kultur der Produktivität.

Das Wort Gottes hat viel über diesen Bund zu sagen. Gerade haben wir die Prophezeiung des Joel gehört: „Eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen." (3,1). Man kann es folgendermaßen interpretieren: Wenn die Älteren sich dem Geist widersetzen und ihre Träume in der Vergangenheit begraben, können die Jüngeren nicht mehr sehen, was getan werden muss, um die Zukunft zu öffnen. Wenn hingegen die Alten ihre Träume mitteilen, sehen die Jungen klar, was sie zu tun haben. Junge Menschen, die die Träume der Älteren nicht mehr erfragen und mit gesenktem Kopf auf Visionen blicken, die nicht über ihren Tellerrand hinausgehen, werden es schwer haben, ihre Gegenwart zu leben und die Zukunft zu ertragen. Wenn sich die Großeltern in ihrer Melancholie vergraben, werden die jungen Leute nur noch mehr auf ihre Handys starren. Der Bildschirm bleibt zwar an, aber das Leben stirbt schon vor der Zeit. Oder ist die schlimmste Folge der Pandemie vielleicht nicht gerade diese Verunsicherung so vieler jungen Menschen, die die Orientierung verloren haben? Die alten Menschen können auf die Ressourcen eines bereits gelebten Lebens zurückgreifen. Werden sie zusehen, wie die jungen Menschen ihre Visionen verlieren, oder werden sie sie begleiten, indem sie ihnen helfen, an ihren Träumen fest zu halten? Was werden die Jungen angesichts der Träume der Alten tun?

Die Weisheit der langen Reise, die das Alter auf seinem letzten Weg begleitet, muss als Sinnangebot für das Leben gelebt und nicht in der Trägheit seines Überlebens verbraucht werden. Wenn dem Alter nicht die Würde eines menschenwürdigen Lebens zurückgegeben wird, ist es dazu bestimmt, in einer Verzagtheit zu versinken, die jedem die Liebe raubt. Diese Herausforderung der Menschheit und der Zivilisation erfordert unser Engagement und Gottes Hilfe. Darum lasst uns den Heiligen Geist bitten. Mit diesen Katechesen über das Alter möchte ich alle ermutigen, ihre Gedanken und ihre Zuneigung für die Gaben des Alters und die der anderen Lebensalter zu verwenden. Das Alter ist ein Geschenk für alle Lebensalter. Es ist ein Geschenk der Reife, der Weisheit. Das Wort Gottes wird uns helfen, den Sinn und den Wert des Alters zu erkennen; möge der Heilige Geist auch uns die Träume und Visionen schenken, die wir brauchen. Und ich möchte betonen, wie wir es in der Prophezeiung von Joel zu Beginn gehört haben, dass es nicht nur darauf ankommt, dass die Älteren den Platz der Weisheit, den sie haben, der gelebten Geschichte in der Gesellschaft einnehmen, sondern auch, dass es ein Gespräch gibt – dass sie mit den Jüngeren reden. Die Jungen müssen mit den Alten reden und die Alten mit den Jungen. Diese Brücke wird der Vermittlung von Weisheit in der Menschheit dienen.

„Das, was ein Baum an Blüten trägt, kommt von seinen Wurzeln“


Ich hoffe, dass diese Überlegungen für uns alle von Nutzen sein werden, um diese Realität weiterzutragen, über die der Prophet Joel gesprochen hat: Dass im Dialog zwischen Jung und Alt die Alten Träume vermitteln können, und die Jungen diese empfangen und weitertragen. Vergessen wir nicht, dass sowohl in der Familien- als auch in der Gesellschaftskultur die Älteren wie die Wurzeln des Baumes sind: In ihnen steckt die ganze Geschichte, und die Jungen sind wie die Blüten und die Früchte. Wenn dieser Saft, dieses Lebenselixier nicht aus den Wurzeln kommt, werden sie niemals gedeihen können. Denken wir an den Dichter, den ich schon oft zitiert habe: „Das, was ein Baum an Blüten trägt, kommt von seinen Wurzeln“ (Francisco Luis Bernárdez). Alles Schöne, das eine Gesellschaft hat, hängt mit den Wurzeln der Älteren zusammen. Aus diesem Grund möchte ich meine Katechesen nun den älteren Menschen widmen – um zu verdeutlichen, dass der ältere Mensch kein Abfallprodukt ist: Er ist ein Segen für die Gesellschaft! Danke.

(vatican news - pr/skr)
 

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23. Februar 2022, 10:20