„Gesichter der Evangelien“: Wenn Schweigen stärker ist als Stein
Mario Galgano - Vatikanstadt
Eine Frau, beim Ehebruch ertappt, wird von den Schriftgelehrten und Pharisäern zur öffentlichen Anklage vor den Tempel von Jerusalem geschleppt. Sie ist bereits verurteilt – zum Tod durch Steinigung, wie es das mosaische Gesetz vorsieht. Doch die wahren Absichten der Ankläger sind durchsichtiger: Sie wollen Jesus eine Falle stellen, ihn zwingen, sich zu äußern – und ihn bei seinen Worten überführen.
Jesus aber antwortet nicht. Er schweigt. Stattdessen bückt er sich und beginnt, mit dem Finger auf den Boden zu schreiben. Ein rätselhafter, fast provozierender Akt. Einige meinen, er habe die Sünden der Ankläger aufgeschrieben. Andere vermuten, er habe gezeichnet, sich der Situation entzogen. In jedem Fall bringt er durch diese Geste Ruhe in eine aufgeladene Szene, durchbricht das Getöse moralischer Überlegenheit und lädt zu Besonnenheit ein.
Wie ein Blitz
Dann erhebt Jesus den Blick. Seine Worte treffen wie ein Blitz in die Selbstgerechtigkeit der Menge:
„Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.“
Was folgt, ist kein Tumult, keine Empörung. Es ist Stille. Eine tiefe, beschämende Erkenntnis scheint sich durchzusetzen. Einer nach dem anderen lässt die Steine fallen – sichtbar wie unsichtbar – und geht fort. Zurück bleiben nur zwei: Jesus und die Frau. Oder wie es der heilige Augustinus einst schrieb:
„Rimangono la misera e la misericordia“ – „Es bleiben die Elende und die Barmherzigkeit.“
Jesus spricht zu ihr, ohne Anklage, ohne Spott, ohne Predigt:
„Geh – und sündige von jetzt an nicht mehr.“
Gleichnis über Schuld, Gnade und Vergebung
Diese Szene, aus dem Johannes-Evangelium, ist nicht nur ein theologisch bedeutsames Gleichnis über Schuld, Gnade und Vergebung – sie ist auch eine kraftvolle Lektion in Menschlichkeit. Papst Franziskus kommentiert sie im Rahmen der Sendung und betont: „Jesus entwaffnet die Ankläger – im wahrsten Sinne des Wortes.“ Die Steine, bereit zum Werfen, sinken zu Boden. Und mit ihnen die Masken der moralischen Überheblichkeit.
Die Serie „Volti dei Vangeli“, deren zwölfter Teil diesem Ereignis gewidmet ist, wurde erstmals am Ostersonntag 2022 in der Primetime auf Rai Uno (öffentlich-rechtlicher Sender in Italien) ausgestrahlt. Konzipiert vom Dikasterium für Kommunikation in Zusammenarbeit mit der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek, den Vatikanischen Museen und Rai Cultura, erzählt die Reihe zentrale Begegnungen aus dem Leben Jesu. Verantwortlich für Regie und Kamera ist Renato Cerisola, die Musik stammt von Michelangelo Palmacci, das Drehbuch von Andrea Tornielli und Lucio Brunelli.
Mit eindrucksvoller Bildsprache, eindringlicher Musik und tiefgründigen Kommentaren gelingt es der Produktion, nicht nur ein Evangelium zu illustrieren – sondern es spürbar und lebendig zu machen. Die Geschichte der Ehebrecherin bleibt dabei eine der stärksten: Sie zeigt, dass das wahre Wunder oft nicht das Übernatürliche ist – sondern das Menschliche im Angesicht göttlicher Barmherzigkeit.
(vatican news)
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