Wortlaut: Ansprache von Papst Leo zum Thema Justiz
Liebe Brüder und Schwestern,
Ich freue mich, euch anlässlich der Jubiläumsfeier willkommen zu heißen, die all jenen gewidmet ist, die in vielfältiger Weise im weiten Feld der Gerechtigkeit tätig sind. Ich grüße die anwesenden Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher Behörden, die aus vielen Ländern angereist sind, um verschiedene Gerichte zu repräsentieren, und euch alle, die ihr täglich einen unentbehrlichen Dienst für ein geordnetes Miteinander von Menschen, Gemeinschaften und Staaten leistet. (...) Das Heilige Jahr macht uns alle zu Pilgern, die im Wiederentdecken der Zeichen einer Hoffnung, die nicht enttäuscht, das nötige Vertrauen wiederfinden wollen, „in der Kirche wie in der Gesellschaft, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in den internationalen Beziehungen, in der Förderung der Würde eines jeden Menschen und in der Achtung der Schöpfung“ (Jubiläumsbulle, 25).
Was für eine bessere Gelegenheit gäbe es, um näher über die Gerechtigkeit und ihre Aufgabe nachzudenken – über jene Gerechtigkeit, von der wir wissen, dass sie sowohl für die geordnete Entwicklung der Gesellschaft unerlässlich ist als auch als Kardinaltugend, die das Gewissen eines jeden Mannes und einer jeden Frau inspiriert und lenkt. Die Gerechtigkeit ist nämlich berufen, eine übergeordnete Rolle im menschlichen Zusammenleben zu spielen, die sich nicht auf die bloße Anwendung des Gesetzes oder die Tätigkeit der Richter reduzieren lässt und sich auch nicht auf verfahrensrechtliche Aspekte beschränken darf.
„Du liebst das Recht und hasst das Unrecht“ (Ps 45,8) – so erinnert uns der biblische Ausdruck und fordert jeden von uns auf, Gutes zu tun und Böses zu vermeiden. Oder auch: Wie viel Weisheit liegt in dem Sprichwort: „Jedem das Seine!“ Und doch reicht all das nicht aus, um das tiefe Verlangen nach Gerechtigkeit zu stillen, das in jedem von uns lebt – jenes Streben nach Gerechtigkeit, das das zentrale Instrument für den Aufbau des Gemeinwohls in jeder menschlichen Gesellschaft ist. In der Gerechtigkeit verbinden sich nämlich die Würde des Menschen, seine Beziehung zu anderen und die Dimension der Gemeinschaft, die aus Zusammenleben, gemeinsamen Strukturen und Regeln besteht. Eine Zirkularität der sozialen Beziehung, die den Wert jedes Menschen in den Mittelpunkt stellt und durch Gerechtigkeit angesichts der verschiedenen Formen von Konflikten, die im individuellen Handeln entstehen können, oder angesichts des Verlusts des gesunden Menschenverstands, der auch Apparate und Strukturen betreffen kann, bewahrt werden muss.
Die Tradition lehrt uns, dass Gerechtigkeit in erster Linie eine Tugend ist, d. h. eine feste und beständige Haltung, die unser Verhalten nach Vernunft und Glauben ordnet.
1. Die Tugend der Gerechtigkeit besteht insbesondere in dem „beharrlichen und festen Willen, Gott und dem Nächsten das zu geben, was ihnen zusteht“.
2. Aus dieser Perspektive verpflichtet die Gerechtigkeit den Gläubigen dazu, „die Rechte jedes Einzelnen zu achten und in den menschlichen Beziehungen eine Harmonie herzustellen, die die Gleichheit gegenüber den Menschen und das Gemeinwohl fördert“ –
3. ein Ziel, das eine Ordnung zum Schutz des Schwachen garantiert, desjenigen, der Gerechtigkeit fordert, weil er Opfer von Unterdrückung, Ausgrenzung oder Ignoranz ist.
Es gibt viele Episoden im Evangelium, in denen menschliches Handeln von einer Gerechtigkeit bewertet wird, die das Übel der Willkür besiegen kann, wie die Hartnäckigkeit der Witwe zeigt, die den Richter dazu bringt, wieder zu einem Sinn für Gerechtigkeit zu finden (vgl. Lk 18,1-8). Aber auch eine höhere Gerechtigkeit, die den Arbeiter der letzten Stunde genauso bezahlt wie den, der den ganzen Tag arbeitet (vgl. Mt 20,1-16); oder die, die die Barmherzigkeit zum Schlüssel für die Interpretation der Beziehung macht und dazu veranlasst, zu vergeben, indem man den verlorenen und wiedergefundenen Sohn aufnimmt (vgl. Lk 15,11-32), oder sogar mehr als siebenmal zu vergeben, sondern siebzigmal siebenmal (vgl. Mt 18,21-35). Es ist die Kraft der Vergebung, die dem Gebot der Liebe eigen ist, die als konstituierendes Element einer Gerechtigkeit hervortritt, die das Übernatürliche mit dem Menschlichen zu verbinden vermag.
Die Gerechtigkeit des Evangeliums lenkt also nicht von der menschlichen Gerechtigkeit ab, sondern hinterfragt und gestaltet sie neu: Sie fordert sie heraus, immer weiter zu gehen, weil sie sie zur Suche nach Versöhnung antreibt. Das Böse muss nämlich nicht nur bestraft, sondern auch wiedergutgemacht werden, und zu diesem Zweck ist ein tiefer Blick auf das Wohl der Menschen sowie auf das Gemeinwohl erforderlich. Eine schwierige Aufgabe, aber keine unmögliche für diejenigen, die sich bewusst sind, dass sie einen anspruchsvolleren Dienst als andere leisten, und sich zu einem untadeligen Lebenswandel verpflichten.
Wie wir wissen, wird Gerechtigkeit dann konkret, wenn sie sich auf andere bezieht, wenn jeder das bekommt, was ihm zusteht, bis Gleichheit in Würde und Chancen unter den Menschen erreicht ist. Wir sind uns jedoch bewusst, dass die tatsächliche Gleichheit nicht die formale Gleichheit vor dem Gesetz ist. Diese Gleichheit ist zwar eine unverzichtbare Voraussetzung für die ordnungsgemäße Ausübung der Gerechtigkeit, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es zunehmend Diskriminierungen gibt, deren erste Folge gerade der fehlende Zugang zur Justiz ist. Wahre Gleichheit hingegen ist die Möglichkeit für alle, ihre Bestrebungen zu verwirklichen und die ihrer Würde innewohnenden Rechte durch ein System gemeinsamer und geteilter Werte garantiert zu sehen, die Normen und Gesetze inspirieren können, auf denen das Handeln der Institutionen aufbaut.
Heute sind es gerade die Suche oder die Wiederentdeckung vergessener Werte im Zusammenleben, ihre Pflege und ihre Achtung, die die Justizmitarbeiter beschäftigen. Es handelt sich um einen nützlichen und notwendigen Prozess angesichts der Verbreitung von Verhaltensweisen und Strategien, die das menschliche Leben von Anfang an missachten, grundlegende Rechte für die persönliche Existenz verweigern und das Gewissen, aus dem die Freiheiten hervorgehen, nicht respektieren. Gerade durch die Werte, die dem sozialen Leben zugrunde liegen, nimmt die Justiz ihre zentrale Rolle für das Zusammenleben von Menschen und menschlichen Gemeinschaften ein. Wie der heilige Augustinus schrieb: „Gerechtigkeit ist nicht wahrhaftig, wenn sie nicht zugleich klug, stark und maßvoll ist.“
Dies erfordert die Fähigkeit, stets im Lichte der Wahrheit und der Weisheit zu denken, das Gesetz tiefgreifend zu interpretieren, über die rein formale Dimension hinaus, um den inneren Sinn der Wahrheit zu erfassen, der wir dienen. Das Streben nach Gerechtigkeit erfordert daher, dass man sie als eine Realität lieben kann, die nur erreicht werden kann, wenn man ständige Aufmerksamkeit, radikale Uneigennützigkeit und unermüdliches Urteilsvermögen miteinander verbindet. Wenn man Gerechtigkeit übt, stellt man sich nämlich in den Dienst der Menschen, des Volkes und des Staates, in voller und beständiger Hingabe.
Die Größe der Gerechtigkeit nimmt nicht ab, wenn sie in kleinen Dingen ausgeübt wird, sondern kommt immer dann zum Vorschein, wenn sie getreu dem Recht und mit Respekt für den Menschen angewendet wird, egal wo er sich auf der Welt befindet. „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden“ (Mt 5,6).
Mit dieser Seligpreisung wollte Jesus die spirituelle Anspannung zum Ausdruck bringen, für die man offen sein muss, nicht nur um wahre Gerechtigkeit zu erlangen, sondern vor allem, um sie von denen zu fordern, die sie in den verschiedenen historischen Situationen verwirklichen müssen. „Hunger und Durst“ nach Gerechtigkeit zu haben bedeutet, sich bewusst zu sein, dass dies persönliche Anstrengungen erfordert, um das Gesetz so menschlich wie möglich auszulegen, aber vor allem verlangt es, nach einer „Sättigung“ zu streben, die ihre Erfüllung nur in einer größeren Gerechtigkeit finden kann, die über die besonderen Situationen hinausgeht.
Liebe Freunde, das Heilige Jahr lädt uns auch dazu ein, über einen Aspekt der Gerechtigkeit nachzudenken, der oft nicht ausreichend berücksichtigt wird: nämlich die Realität vieler Länder und Völker, die „Hunger und Durst nach Gerechtigkeit” haben, weil ihre Lebensbedingungen so ungerecht und unmenschlich sind, dass sie inakzeptabel sind. Auf die aktuelle internationale Lage sollten daher diese immer gültigen Urteile angewendet werden: „Ohne Gerechtigkeit kann man den Staat nicht verwalten; es ist unmöglich, dass dort Recht herrscht, wo keine echte Gerechtigkeit existiert. Eine Handlung, die im Sinne des Gesetzes vollzogen wird, wird sicherlich gemäß der Gerechtigkeit vollzogen, und es ist unmöglich, dass eine Handlung, die gegen die Gerechtigkeit verstößt, gemäß dem Gesetz vollzogen wird. […] Ein Staat, in dem es keine Gerechtigkeit gibt, ist kein Staat. Denn Gerechtigkeit ist die Tugend, die jedem das Seine zuteilt. Folglich ist jene Gerechtigkeit, die den Menschen dem wahren Gott entzieht, keine Gerechtigkeit des Menschen.“
Mögen die eindringlichen Worte des heiligen Augustinus jeden von uns dazu inspirieren, stets unser Bestes zu geben, um im Dienste des Volkes Gerechtigkeit walten zu lassen, mit dem Blick auf Gott gerichtet, damit wir die Gerechtigkeit, das Recht und die Würde der Menschen uneingeschränkt achten. Mit diesem Wunsch danke ich Ihnen und segne jeden von Ihnen, Ihre Familien und Ihre Arbeit von ganzem Herzen.
(vatican news)
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