Papst Leo beim Welttreffen Sozialer Bewegungen im Vatikan Papst Leo beim Welttreffen Sozialer Bewegungen im Vatikan  (@Vatican Media)

Papst: Migranten werden wie Müll behandelt und Völker ausgeraubt

Mit ungewohnt scharfen Worten hat Papst Leo XIV. soziale Ungerechtigkeiten angeprangert und zu einem Wandel aufgerufen. Es brauche mehr Gerechtigkeit und Solidarität, so das Kirchenoberhaupt bei einer Begegnung mit Vertretern Sozialer Bewegungen im Vatikan. Im Fokus hat er auch die „Kollateralschäden“ durch neue Technologien, die unmenschliche Behandlung von Migranten und die Ausbreitung neuer synthetischer Drogen wie Fentanyl, das besonders in den USA verheerend wirkt.

Salvatore Cernuzio und Christine Seuss – Vatikanstadt

Ausgeraubte, bestohlene, geplünderte Völker, in Armut gezwungen; verletzliche Migranten, Opfer von Missbrauch und behandelt wie „Müll“. Dann alte und neue Drogen (wie Fentanyl), die sich ungehindert ausbreiten; Überschwemmungen, Tsunamis, Erdbeben, die die Klimakrise sichtbar machen; der Profit, der immer mehr zur Götzenverehrung wird, ebenso wie der Kult des Körpers und des körperlichen Wohlbefindens. 

Die Gerechtigkeit scheine zu versagen, machtlos angesichts neuer Technologien, die den Fortschritt ebenso fördern wie die Ungleichheit; Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung, Ausbeutung; eine allgemeine „entmenschlichende“ Tendenz sozialer Ungerechtigkeiten und die exponentielle Vergrößerung der Kluft zwischen einer „kleinen Minderheit“ – dem berühmten einen Prozent der Weltbevölkerung – also den Reichen und der überwältigenden Mehrheit der Armen.

Papst Leo trifft die Teilnehmer am 5. Welttreffen der Sozialen Bewegungen im Vatikan
Papst Leo trifft die Teilnehmer am 5. Welttreffen der Sozialen Bewegungen im Vatikan   (@Vatican Media)

Verweise auf Franziskus und Leo XIII.

Diese und andere scharfe Anklagen sind in der Ansprache von Papst Leo enthalten, die er an die Vertreter von Volksbewegungen gerichtet hat, die sich zu ihrem 5. Welttreffen im Vatikan versammelt haben. Vielleicht hart wie nie zuvor in seinem Pontifikat zeichnet Papst Leo XIV. ein düsteres Bild der heutigen Epoche, in einer langen – knapp 19 Seiten umfassenden – Rede, die mit Verweisen auf das Lehramt seines Vorgängers Papst Franziskus durchsetzt ist. Dieser hatte die Treffen der Sozialen Bewegungen ins Leben gerufen. Ähnlich bedeutsame Verweise finden sich auch auf den Papst, der die erste Sozialenzyklika verfasste und Leo XIV. eigener Aussage nach zu seiner Namenswahl inspirierte, nämlich Leo XIII. und seine Rerum Novarum.

Doch über Anklagen und Appelle hinaus ermutigt Papst Leo auch zur Tat, zur Prophetie, zur „Poesie“ und vor allem zur Hoffnung: auf Veränderung, auf einen erneuerten Weg der „Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens“, auf „neue Dinge“ – Rerum novarum eben, wie der Titel der berühmten Enzyklika seines Vorgängers von der Schwelle zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert. Und auf seinen direkten Vorgänger Franziskus gehen die „neuen“ Welttreffen der Menschen zurück, die sich an der Basis für eine soziale Veränderung einsetzen, unter der Überschrift „Tierra, techo, trabajo“ – „Erde, Haus und Arbeit“:

„Im Einklang mit den Forderungen von Franziskus sage ich heute: Erde, Haus und Arbeit sind heilige Rechte. Es lohnt sich, für sie zu kämpfen, und ich will, dass ihr mich sagen hört: ‚Ich bin dabei! Ich bin mit euch!‘“, so das Versprechen von Leo XIV..

Rnud 2.000 Menschen waren gekommen
Rnud 2.000 Menschen waren gekommen   (@Vatican Media)

Prophetische Bedeutung

Etwa zweitausend Menschen hatten sich in der Aula Paolo VI. versammelt, um den Papst zu treffen und seinen ermutigenden Worten zu lauschen. Vertreten waren Aktionisten aus den „Peripherien“ aller Kontinente: Arme, Migranten, Landarbeiter, Müllsammler. Sie sind in einer „Prozession“ gekommen – aus dem ,Spin Time Lab', dem Gebäude im römischen Stadtteil Esquilino, das von etwa 400 Menschen in Not zu Wohn- und Sozialzwecken besetzt und zum Hauptquartier der Sozialen Bewegungen in Rom geworden ist.

Am Freitag werden sie ihre Jubiläumsfeier in Rom durchführen, begleitet von Bischöfen oder anderen Vertretern ihrer Diözesen, mitten im Herzen der Weltkirche, wie von Franziskus erträumt. Diesen Weg, so erklärt Papst Leo in seiner Ansprache, wolle er nun fortsetzen; den Weg eines Papstes, der „in diesen Jahren oft mit eurer Realität im Dialog stand und ihre prophetische Bedeutung in einer von vielfältigen Problemen gezeichneten Welt hervorgehoben hat“.

Momente der Audienz
Momente der Audienz   (@Vatican Media)

Misshandlungen und Unmenschlichkeit gegenüber Migranten

Dabei sieht man sich allerdings dramatischen Problemen gegenüber – angefangen mit dem der Migranten: „Die Staaten haben das Recht und die Pflicht, ihre Grenzen zu schützen, doch dies sollte im Gleichgewicht stehen mit der moralischen Verpflichtung, Zuflucht zu gewähren“, erklärt Leo XIV. in diesem Zusammenhang.

Er verurteilt den „Missbrauch der verletzlichen Migranten“, vor dem „wir nicht den legitimen Gebrauch nationaler Souveränität erleben, sondern vielmehr schwere Verbrechen, die vom Staat begangen oder geduldet werden“: „Es werden zunehmend unmenschliche Maßnahmen ergriffen – sogar politisch gefeiert – um diese ‚Unerwünschten‘ zu behandeln, als wären sie Müll und keine Menschen.“

Momente der Audienz
Momente der Audienz   (@Vatican Media)

Ungestillte Grundbedürfnisse

Mit gleicher Schärfe richtet Leo XIV. den Finger auf die negativen Auswirkungen der technologischen Entwicklung auf Gesundheit, Bildung, Arbeit, Verkehr, Urbanisierung, Kommunikation, Sicherheit und Verteidigung.

Dabei weist er zunächst auf das „Paradox“ hin, dass Millionen Menschen keinen Zugang zu Land, Nahrung, Wohnung und Arbeit haben, während „Mobiltelefone, soziale Netzwerke und sogar künstliche Intelligenz Millionen von Menschen zugänglich sind“ – auch den Armen.

„Sorgen wir dafür, dass, wenn raffiniertere Bedürfnisse befriedigt werden, die grundlegenden nicht vernachlässigt werden“, so der eindringliche Appell des Kirchenoberhauptes.

Kardinäle hatten die Pilger begleitet
Kardinäle hatten die Pilger begleitet   (@Vatican Media)

Klimakrise und „virtuelle“ Krise

Kurzum, der Papst spricht von einer „schlechten Verwaltung“, die „unter dem Vorwand des Fortschritts Ungleichheiten erzeugt und vergrößert. Und weil sie nicht die Menschenwürde ins Zentrum stellt, versagt das System auch in der Gerechtigkeit.“

Einen nach dem anderen zählt der Papst die „Kollateralschäden“ auf; an erster Stelle die Klimakrise, vielleicht das deutlichste Beispiel, mit ihren extremen Wetterereignissen. „Wer leidet am meisten darunter? Immer die Ärmsten“, so die Antwort des Papstes auf eine auch von seinem Vorgänger oft aufgeworfene – rhetorische – Frage.

Sowohl diejenigen, deren spärliches Hab und Gut vom Wasser weggeschwemmt wird, als auch „Bauern, Landwirte und indigene Bevölkerungen“, die ihre Ländereien, Identität und lokale Produktion durch die fortschreitende Verwüstung verlieren.

Vertreter aus allen Erdteilen waren dabei
Vertreter aus allen Erdteilen waren dabei   (@Vatican Media)

Soziale Netzwerke befeuern Unsicherheiten

Dann folgt der Gedankensprung hin zur Krise, die von den sozialen Netzwerken genährt wird:

„Wie kann ein armer junger Mensch hoffnungsvoll und ohne Angst leben, wenn die sozialen Medien ständig hemmungslosen Konsum und wirtschaftlichen Erfolg verherrlichen, die völlig unerreichbar sind?“

Und wie könnte man die Abhängigkeit vom digitalen Glücksspiel vergessen, mit Plattformen, die darauf ausgelegt sind, „Zwangsabhängigkeit“ und „Gewöhnung“ zu erzeugen, gibt Leo in seinem Rundumschlag gegen die Auswüchse der modernen Zivilisation zu bedenken.

Momente der Audienz
Momente der Audienz   (@Vatican Media)

Die Verwüstung durch alte und neue Drogen

Der Bischof von Rom schweigt auch nicht über die „Neuheit“ oder besser gesagt „Mehrdeutigkeit“ der Pharmaindustrie:

„In der heutigen Kultur, nicht ohne die Hilfe bestimmter Werbekampagnen, wird eine Art Kult des körperlichen Wohlbefindens propagiert, fast eine Vergötzung des Körpers. Und in dieser Sichtweise wird das Geheimnis des Leidens verkürzt interpretiert; das kann auch zur Abhängigkeit von Schmerzmitteln führen, deren Verkauf natürlich die Gewinne derselben Hersteller steigert.“

Insbesondere richtet der Papst den Blick auf seine Heimat, die Vereinigten Staaten, die von der Opioidabhängigkeit verwüstet werden:

„Man denke zum Beispiel an Fentanyl, die Droge des Todes, die dort die zweithäufigste Todesursache unter den Armen ist.“

„Die Ausbreitung neuer synthetischer Drogen, immer tödlicher, ist nicht nur ein Verbrechen der Drogenhändler, sondern eine Realität, die mit der Medikamentenproduktion und ihrem gewinnorientierten System zu tun hat – ohne globale Ethik“, betont Leo XIV.

Erfahrungsberichte vor dem Papst
Erfahrungsberichte vor dem Papst   (@Vatican Media)

Die Ausbeutung von Bodenschätzen in armen Ländern

Er kritisiert weiter die Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die auf der Förderung von Mineralien aus den Minen armer Länder basiert. Das Coltan in der Demokratischen Republik Kongo zum Beispiel, dessen Abbau „von paramilitärischer Gewalt, Kinderarbeit und der Vertreibung von Bevölkerungen abhängt“. Oder Lithium, das „weiße Gold“, das den Wettbewerb zwischen Großmächten und Unternehmen anheizt und „eine ernste Bedrohung für die Souveränität und Stabilität armer Staaten“ darstellt – mit Unternehmern und Politikern, die „sich rühmen, Staatsstreiche und andere Formen politischer Destabilisierung zu fördern“, um sich dieser Ressourcen zu bemächtigen.

Soziale Dichter

Das aktuelle Panorama ist also schon verheerend, ohne dabei überhaupt die aktuellen bewaffneten Konflikte angesprochen zu haben – und doch zeigt sich Papst Leo nicht hoffnungslos: Ermutigt durch den Anblick der Sozialen Bewegungen, der Zivilgesellschaft und der Kirche, die diese neuen Formen der Entmenschlichung frontal angehen und unablässig bezeugen, dass der Bedürftige unser Nächster, unser Bruder und unsere Schwester ist.

„Das macht euch zu Champions der Menschlichkeit, zu Zeugen der Gerechtigkeit, zu Dichtern der Solidarität“, zu „Baumeistern der Solidarität in der Vielfalt“, unterstreicht Leo:

„Die Kirche muss mit euch sein: eine arme Kirche für die Armen, eine Kirche, die sich beugt, eine Kirche, die Risiken eingeht, eine mutige, prophetische und freudige Kirche!“

Keine Ideologie, sondern Evangelium

Wichtig sei jedoch, dass der Dienst stets von der Liebe beseelt sei, „der größten aller Tugenden“.
Denn, so sagt der Papst, auch aus seiner missionarischen Erfahrung in Peru schöpfend:

„Wenn Genossenschaften und Arbeitsgruppen gebildet werden, um die Hungrigen zu speisen, Obdachlosen Schutz zu bieten, Schiffbrüchige zu retten, sich um Kinder zu kümmern, Arbeitsplätze zu schaffen, Zugang zu Land zu ermöglichen und Häuser zu bauen, dann dürfen wir nicht vergessen: das ist keine Ideologie – das ist das gelebte Evangelium.“

Im Zentrum des Evangeliums stehe nämlich „das Gebot der Liebe“:

„Und so müssen die Sozialen Bewegungen, noch vor dem Streben nach Gerechtigkeit, vom Verlangen nach Liebe bewegt sein – gegen jeden Individualismus und jedes Vorurteil.“

Die „Globalisierung der Ohnmacht“ bekämpfen

All das, betont der Papst, „ist ein Gegengift gegen eine strukturelle Gleichgültigkeit, die sich immer weiter ausbreitet“. Wo Franziskus von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ sprach, erkennt Leo nun eine – vielleicht auch schlimmere - „Globalisierung der Ohnmacht“. Diese müsse mit einer „Kultur der Versöhnung und des Engagements“ bekämpft werden.

„Die Volksbewegungen füllen diese Leere, die aus Mangel an Liebe entstanden ist, mit dem großen Wunder der Solidarität – gegründet auf die Fürsorge für den Nächsten und auf die Versöhnung.“

Blick von den Peripherien her

Leo XIV. ermutigt angesichts dieses Panoramas zur Arbeit und zum Handeln: „Heute möchte ich mit euch auf die ‚neuen Dinge‘ blicken – ausgehend von der Peripherie.“ Denn von den Peripherien aus „erscheinen die Dinge anders“, während „vom Zentrum aus wenig Bewusstsein für die Probleme der Ausgeschlossenen besteht; und wenn darüber in politischen oder wirtschaftlichen Diskussionen gesprochen wird, hat man den Eindruck, es handle sich um eine Nebensache.“

Die Peripherien riefen „oft nach Gerechtigkeit, und ihr schreit nicht aus Verzweiflung, sondern aus Sehnsucht“, fügt der Papst hinzu. „Euer Schrei sucht Lösungen in einer Gesellschaft, die von ungerechten Systemen beherrscht wird. Und ihr tut das nicht mit Mikroprozessoren oder Biotechnologien, sondern auf der elementarsten Ebene – mit der Schönheit des Handwerks.“: „Und das ist Poesie …“, so Leo XIV. eindringlich.

Ethische Leere

Darüber hinaus, so der Papst, stehe man „einer ethischen Leere gegenüber“, hervorgerufen durch die Krise der Gewerkschaften des 20. Jahrhunderts, die immer weniger werden, und durch den Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme, die die Armen noch „verwundbarer und weniger geschützt“ gemacht haben.

„Die sozialen Institutionen der Vergangenheit waren nicht perfekt, aber indem man den Großteil von ihnen zerstört und das, was bleibt, mit unwirksamen Gesetzen und nicht umgesetzten Abkommen schmückt, macht das System die Menschen verwundbarer als zuvor“, merkt der Papst an.

Deshalb, so Leone XIV, seien die Volksbewegungen, zusammen mit Gläubigen und Regierungen, „dringend aufgerufen, diese Leere zu füllen, Prozesse der Gerechtigkeit und Solidarität einzuleiten, die sich in der gesamten Gesellschaft ausbreiten“.

Die Kirche an der Seite

„So wie die Kirche in der Vergangenheit die Entstehung der Gewerkschaften begleitet hat, müssen wir heute die Sozialen Bewegungen begleiten!“, versichert der Nachfolger Petri.

„Die Kirche unterstützt euren gerechten Kampf für Erde, Haus und Arbeit. Wie mein Vorgänger Franziskus glaube auch ich, dass die richtigen Wege von unten und von der Peripherie zum Zentrum führen. Eure zahlreichen und kreativen Initiativen können sich in neue öffentliche Politiken und soziale Rechte verwandeln.“

(vatican news)

 

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23. Oktober 2025, 18:47