Ukraine: Der Pfarrer von Butscha
Ein Hinweis vorab: Dieser Artikel enthält Video- und Bildmaterial, das Sie verstören könnte.
Mehrere hundert Menschen – fast durchweg Zivilisten – kamen zwischen Ende Februar und Anfang März 2022 in Butscha ums Leben. Damals war die Stadt von russischen Truppen besetzt; als sie abzogen, blieben an den Straßenrändern von Butscha die Leichen von erschossenen Menschen zurück. Viele von ihnen waren offenbar gefoltert worden, manchen waren die Hände hinter dem Rücken gefesselt.
Ein Schock für die Weltöffentlichkeit; der Internationale Strafgerichtshof ermittelt. „Immer furchtbarere Grausamkeiten, die auch gegen Zivilisten verübt wurden“, so reagierte der damalige Papst Franziskus von Rom aus bei einer Generalaudienz. „Wehrlose Frauen und Kinder. Sie sind Opfer, deren Blut zum Himmel schreit…“
Heute erhebt sich über der Stelle des Massengrabs von Butscha ein Mahnmal für die Ermordeten. Zwischen ihren Namen und Lebensdaten ist eine Darstellung der Pietà angebracht. In der orthodoxen Kirche gleich daneben zeigen Fotos den schrecklichen Anblick, der sich den Befreiern vor dreieinhalb Jahren bot; darüber hängen Ikonen.
Andriy Halavin ist der orthodoxe Priester von Butscha. Wir sprachen mit ihm über seine Erinnerungen an die Zeit unter russischer Besatzung – und über das schwierige Thema Vergebung.
INTERVIEW
„Hier ist ein Rätsel für Sie: Was haben die Mächte des Bösen und ein guter Kameramann gemeinsam? Ein guter Kameramann ist ebenso wenig im Bild zu sehen wie die Mächte des Bösen, man sieht nicht einmal seinen Schatten… Aber er ist da!“
Bitte erzählen Sie uns etwas über diese schrecklichen Tage im Frühjahr 2022, als die Russen Butscha besetzten.
„Ja. Ich hatte in diesen Tagen eine Art Flashback, als Polen mit Drohnen angegriffen wurde: Als ich diese Bilder sah, kamen in mir sehr stark wieder die Gefühle aus den ersten Tagen des Krieges hoch. Die Polen haben die gleiche Angst empfunden wie wir, als wir damals angegriffen wurden. Der Krieg hat unser Leben in ein Vorher und Nachher geteilt.
Wir hörten die ersten Explosionen bereits in den frühen Morgenstunden des ersten Kriegstages. Hier in der Nähe von Butscha gibt es einen Flughafen namens Antonov, den die Russen nutzen wollten, um zusätzliche Truppen zu landen, und so begannen sie, alle ihre Flugzeuge, Hubschrauber und so weiter dorthin zu bringen. Ich hatte Glück, weil ich meine Familie in den ersten Stunden des Krieges evakuieren konnte, daher war das alles für mich etwas einfacher, weil ich zumindest allein war und mich um niemanden kümmern musste. Meine Familie war in Sicherheit.
Ich hörte also die Explosionen, sah furchtbare Dinge, sah Rauch und Feuer um mich herum – und konnte emotional einfach nicht akzeptieren, dass der Krieg begonnen hatte. Wir alle haben das sogenannte ‚Syndrom des verzögerten Lebens‘ entwickelt, das heißt, wir haben unser Leben sozusagen auf Eis gelegt und warten darauf, dass der Krieg endet. Um Ihnen ein Beispiel dafür zu geben, wie sich das anfühlt: Meine Tochter hat 2014 angefangen, zur Schule zu gehen. Dieses Jahr hat sie die Schule abgeschlossen, und praktisch während ihrer gesamten Schulzeit hat der Krieg nie aufgehört, und wir warten immer noch darauf, dass all das ein Ende hat.
Die Besatzung dauerte hier einen Monat, aber die Gräueltaten und alles, was der Krieg mit sich bringt, dauern bis heute an. Es gibt weiterhin ständige Angriffe. Vor wenigen Wochen haben Drohnen Gebäude weniger als einen Kilometer von meinem Haus entfernt getroffen, und die Explosion war so stark, dass der Spiegel bei mir von der Wand fiel und zerbrach…“
Wie haben Sie die Tage der Besetzung erlebt? Haben Sie mit den Russen gesprochen?
„Es waren wirklich schwierige Tage, voller Angst, sogar Angst um mein Leben. Ich will Ihnen eine Begebenheit erzählen: Eines Abends wollte ich Kerzen in die Kirche bringen, und plötzlich sehe ich an der Kreuzung hier in der Nähe russische Truppen. Ich stehe da also auf der Straße und muss mich entscheiden, ob ich umdrehen und weggehen oder auf sie zugehen soll. Wenn ich mich umgedreht hätte, um wegzugehen, hätte ich nicht gewusst, ob sie nicht vielleicht auf mich schießen würden. Also sage ich mir: ‚Na gut, ich gehe auf sie zu und erkläre ihnen, wohin ich gehe‘. Ich gehe also zu ihnen, erkläre ihnen, dass ich Kerzen in die Kirche bringen will, und sie lassen mich passieren. Aber nach dieser ersten Gruppe kommt eine weitere Gruppe von Soldaten, die offenbar zum selben Regiment gehören; sie stehen da mit ihren Gewehren, drehen mir den Rücken zu und schießen, wohin sie blicken. Einer dieser Soldaten dreht sich zu mir um, und ich sehe in seinen Augen so einen animalischen Wunsch zu töten. Heute sage ich mir: Im Grunde genommen hatte ich also Glück, dass ich von der Straßenseite herkam, wo sie mich passieren ließen, und nicht auf der anderen Straßenseite, wo diese Soldaten standen und schossen. Sie ließen mich nur passieren, weil ich ihnen sagte, dass ihre Kollegen auf der anderen Seite mir die Erlaubnis gegeben hätten. Also ließen sie mich passieren. Aber die Angst, mein Leben zu verlieren, war ständig da.
Und wie war das für Sie, als die Welt die Verbrechen von Butscha entdeckt hat?
Nun, wir waren damit beschäftigt, die Leichen aus diesem Massengrab hier unter dem heutigen Mahnmal zu bergen. Fast zweieinhalb Monate lang waren wir damit beschäftigt, diese Leichen zu identifizieren und ihnen dann ein eigenes Begräbnis zu geben... Das war so ziemlich das, was wir jeden Tag taten... Diese Menschen sind nicht hier begraben, sondern auf dem Friedhof. Sie wurden also exhumiert, identifiziert und auf den Friedhof gebracht und begraben. Fast alle Leichen wurden identifiziert, was ein sehr langwieriger Prozess war, da DNA-Tests durchgeführt werden mussten. Wir erhielten Hilfe aus Frankreich, das ein mobiles Expertenteam mit Spezialausrüstung hierher schickte, denn viele Leichen waren verbrannt oder lagen mehrere Wochen lang auf der Straße und waren daher oft nicht mehr zu erkennen. Deshalb dauerte dieser Prozess mehr als zweieinhalb Monate.“
Wie gehen Sie heute mit diesem Trauma um? Und halten Sie Vergebung für möglich?
„Also, wir helfen uns in unserer Gemeinde sehr, gegenseitig. Auch ich werde emotional sehr von meinen Gemeindemitgliedern unterstützt. Und ich sage immer, dass früher oder später der Moment der Vergebung kommen wird. Wir können nicht voller Hass leben, aber wir können auch nicht, wie soll ich sagen, schon jetzt einen Schlussstrich ziehen. Wann diese Vergebung stattfinden soll? Im Moment sind wir sicher noch nicht bereit dafür. So wie die Russen noch nicht bereit sind, um diese Vergebung zu bitten, kann ich sagen, dass wir wahrscheinlich bereit sein werden zu vergeben, wenn die Russen dazu bereit sind, um Vergebung zu bitten. Aber wann wird das geschehen? Niemand weiß das.
Viele Journalisten und Menschen, die hierherkommen, stellen die Frage, ob wir den Russen vergeben können. Auf diese Frage antworte ich immer mit einer Gegenfrage: Glauben Sie, dass die Russen unsere Vergebung wollen? Brauchen sie sie wirklich? Im Moment bittet niemand um Vergebung. Für uns ist es im Moment das Wichtigste, dass dieser Krieg beendet wird. Und wir beten für Frieden. Aber für uns ist das Wesentliche, die grundlegende Frage, welche Art von Frieden es geben wird. Der Frieden muss gerecht sein. Die Russen stellen sich ihren Frieden so vor, dass kein Ukrainer mehr am Leben ist und niemand mehr erschossen werden kann. Und diese Art von Frieden wollen wir nicht!“
Was sagen Sie Ihren Gemeindemitgliedern über das Thema Hass und Vergebung, wenn Sie predigen?
„Ich versuche einfach, meine Gemeindemitglieder irgendwie zu trösten, um zumindest ein wenig die Last dieses Hasses zu erleichtern, den natürlich jeder von uns in sich trägt. Und indem ich versuche, ihnen wieder zu Glück zu verhelfen, denn wir verdienen es trotz allem, glücklich zu sein.
Der Westen versteht nicht immer wirklich die Gründe für diesen Krieg. Für uns ist dieser Krieg kein Krieg um Gebiete, kein Krieg zur Rückeroberung von Gebieten. Im Grunde genommen ist dieser Krieg für uns ein Krieg um das Überleben unserer Identität, denn die Russen leugnen faktisch unsere Identität. Sie bezeichnen uns als andere Russen, als etwas falsche Russen, die umerzogen und irgendwie verändert werden müssen, um uns davon zu überzeugen, an ihrer Seite gegen andere Nationen zu kämpfen, die sie selbst bestimmen. Aber Tatsache bleibt, dass sie unsere Identität leugnen.
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Da ist also ein Pfarrer, der seine Gemeindemitglieder versammelt und sie fragt: ‚Wer ist bereit, seinen Feinden zu vergeben?‘, und nur die Hälfte der Anwesenden hebt die Hand und sagt: ‚Ja, ich wäre bereit zu vergeben‘. Die anderen lassen ihre Hände unten. Also fährt er mit seiner Predigt fort, um sie zu überzeugen. Nach einer Weile fragt er erneut: ‚Seid ihr jetzt bereit zu vergeben?‘ Da heben sie alle, vielleicht auch aus Ermüdung, die Hände. Vielleicht auch, um zu sagen: ‚Jetzt reicht es, Schluss mit dieser Predigt‘. Doch er sieht, dass nicht alle die Hand gehoben haben – eine ältere Dame lässt ihre Hand unten. Also stellt er sie in die Mitte der Kirche und fragt sie: ‚Warum heben Sie nicht die Hand? Warum sind Sie nicht bereit zu vergeben?‘ Und sie sagt: ‚Aber warum denn? Ich habe gar keine Feinde‘. Und er sagt: ‚Wie können Sie keine Feinde haben?‘ Und sie sagt: ‚Ganz einfach, weil ich sie alle überlebt habe, sie sind alle schon tot; jetzt habe ich sie nicht mehr‘. Also, das ist für uns der einzige Weg im Moment: sie alle zu überleben.“
Wenn man all das durchmacht, was Sie durchgemacht haben, wie kann man da den Glauben bewahren?
„Ja, der Krieg ist ein Kontext, der einen entweder wirklich zugrunde richtet oder den Glauben stärkt. Wenn man den Soldaten zuhört, dann hört man immer wieder den Spruch, dass es in den Schützengräben keine Atheisten gibt. In den Schützengräben überdenken die Menschen ihren Glauben; wenn man wirklich niemanden mehr hat, den man um Hilfe bitten kann, und wenn man sich in einer Situation befindet, in der es nur noch ums reine Überleben geht, dann wendet man sich an Gott, auch wenn man ihn bis zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch nie mit Gebeten behelligt hat. In diesem Moment findet man wirklich zum Glauben zurück. Man könnte auch sagen: Du stärkst deinen Glauben, indem du versuchst zu überleben. Und genau das versuchen wir…“
Viele setzen sich für eine Friedenslösung ein, darunter der Papst in Rom. Wie stehen Sie dazu?
„Ich bin ein einfacher Priester und niemand, der dem Papst oder anderen kirchlichen Autoritäten Ratschläge zu diesem Thema geben könnte. Aber ja, wenn man mich nach meiner Meinung fragt, denke ich, dass die Kirche in einer solchen Situation am besten handelt, indem sie die Dinge beim Namen nennt und nicht versucht, Botschaften zu vermitteln, die gewissermaßen verwässert sind. Die Sünde beim Namen nennen, das Böse beim Namen nennen, wie es auch in der Bibel steht, wo Jesus sagt: ‚Wehe euch, wenn alle nur Gutes über euch sagen!‘ Es ist wichtig, die Wahrheit zu sagen und die Dinge beim Namen zu nennen. Wenn eine Kirche Raketen segnet, die dann Zivilisten töten, handelt sie faktisch gegen die Zehn Gebote, in denen es heißt ‚Du sollst nicht töten‘. Meiner Meinung nach ist es das Falscheste, zu versuchen, die Dinge zu verwässern. Ja, der Antichrist und damit das Böse müssen beim Namen genannt werden!“
Wo war Gott hier in Butscha, während all das Furchtbare geschah?
Diese etwas provokante Frage stellen mir viele Journalisten – und ich antworte immer, dass Gott auf jeden Fall hier ist! Aber es ist nicht Gott, der gekommen ist, um zu schießen, es ist nicht Gott, der gekommen ist, um zu töten; w i r waren es, die Menschen. Und deshalb müssen wir uns immer daran erinnern, dass es der Mensch ist, der tatsächlich darüber entscheidet, was er tut, denn Gott überlässt ihm die Entscheidung, ob er tötet oder nicht. Und so bin ich in diesem Krieg einerseits tatsächlich, wie soll ich sagen, von einer bestimmten Gruppe von Menschen, nämlich den Russen, desillusioniert, nicht wahr? Andererseits ist mein Glaube jedoch gerade dadurch gestärkt worden, dass ich andere Menschen gesehen habe, die hierhergekommen sind, um zu helfen, oder die ihre Häuser für Flüchtlinge öffnen und humanitäre Hilfe leisten. Wenn man so etwas sieht, dann stärkt das den Glauben.“
Hintergrund
Das Gespräch mit Andriy Halavin führte Stefan von Kempis am 16. September in Butscha (Ukraine). Kempis nahm vom 14.-18. September an einer Reise des Groß-Hospitaliers des Malteserordens, Josef D. Blotz, in die Ukraine teil. Der Fokus galt dabei besonders Malteser-Hilfsprojekten in dem vom Krieg gemarterten Land, in dem der Malteserorden seit 1991 präsent ist. Seit dem Beginn des Krieges im Februar 2022 stellt er in einer gemeinsamen Anstrengung aller seiner Vereinigungen, Hilfskorps und etwa 1.000 Freiwilligen (sowohl ausländischen als auch ukrainischen) medizinische, soziale und psychologische Hilfe sowie sichere Unterkünfte für Vertriebene in der Ukraine und den Nachbarländern bereit.
(vatican news)