Rerum Novarum: 134 Jahre und aktueller denn je
Birgit Pottler – Vatikanstadt
Inmitten der industriellen Revolution forderte er gerechte Löhne, die Würde der Arbeit und Verantwortung des Eigentums. Heute, im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz und digitaler Arbeitswelt, knüpft Papst Leo XIV. bewusst an dieses Vermächtnis an.
Leo XIII. habe sich der sozialen Frage seiner Zeit gestellt – und darauf beziehe er sich bei seiner Namenswahl, sagte Papst Leo XIV. in den Tagen nach seiner Wahl. Angesichts der neuen Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz und deren Auswirkungen auf Gerechtigkeit, Arbeit und Menschenwürde „bietet die Kirche allen den Schatz ihrer Soziallehre an“.
Antwort auf die soziale Frage der industriellen Revolution
Als Papst Leo XIII. im Mai 1891 die Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ veröffentlichte, war Europa von den Umwälzungen der industriellen Revolution geprägt. Der technische Fortschritt forderte seinen Tribut: Massenhafte Verarmung der Arbeiterschaft, fehlende soziale Absicherung und Ausbeutung in Fabriken prägten die Gesellschaft. Die „soziale Frage“ war ein brennendes Thema geworden, und die katholische Kirche sah sich herausgefordert, darauf eine Antwort zu finden – besonders, weil Arbeiterschaft und Kirche sich entfremdet hatten.
Der „dritte Weg“ der Kirche
Mit „Rerum Novarum“ legte Leo XIII. eine richtungsweisende Enzyklika vor: Er verteidigte das Recht auf Privateigentum, setzte sich aber zugleich für gerechte Löhne, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und das Recht der Arbeiter auf Zusammenschluss ein und unterstützte katholische Arbeiterverbände. Er betonte die Verantwortung des Kapitals gegenüber den Schwächeren, forderte den Staat zur sozialen Regulierung auf und verwies auf die Familie als Grundzelle der Gesellschaft. Nicht Klassenkampf, sondern Solidarität und Gerechtigkeit sollten das soziale Gefüge bestimmen. Leo XIII. legte den Grundstein für den „Dritten Weg“ der Kirche, der sich zwischen Kapitalismus und Sozialismus positionierte.
„Rerum Novarum“ gilt als die Geburtsstunde der katholischen Soziallehre. Ihre Prinzipien – Menschenwürde, Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität – bilden bis heute das Fundament kirchlicher Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Fragen.
Die Weiterentwicklung der Soziallehre
Immer wieder griffen spätere Päpste auf die Enzyklika zurück und entwickelten die katholische Soziallehre weiter. Je nach Lage und Thema der Zeit. Pius XI. schrieb 1931 in „Quadragesimo Anno“ zur Weltwirtschaftskrise, Johannes XXIII. wies in „Mater et Magistra“ 1961 auf die wachsende Ungleichheit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern hin. Paul VI. mahnte 1967 in „Populorum Progressio“ zur internationalen Solidarität und . In „Centesimus Annus“ warnte Johannes Paul II. vor ungezügeltem Kapitalismus. Papst Franziskus verknüpfte 2015 in „Laudato si“ ökologische und soziale Themen.
Und nun Papst Leo XIV., der sich auf das Vermächtnis von Leo XIII. und „Rerum Novarum“ bezieht, und dieses Erbe für das digitale Zeitalter erschließen will.
Künstliche Intelligenz und Arbeit – eine neue soziale Frage?
Die Fragen, die Leo XIII. vor 134 Jahren stellte, sind heute hochaktuell. Der technologische Umbruch durch Künstliche Intelligenz, Automatisierung und digitale Plattformökonomie verändert unsere Arbeitswelt. Diese Entwicklung lässt sich nicht ignorieren. Sie erfordert Orientierung und den Schutz der Menschenwürde.
Viele erleben die Digitalisierung als Bedrohung, da menschliche Arbeitskraft durch KI ersetzt wird und neue Formen der Unsicherheit entstehen. Die digitale Ökonomie bringt neue Ungleichheiten: Daten und technologische Infrastruktur liegen in den Händen weniger Konzerne, deren Einfluss auf Gesellschaft und Arbeitsbedingungen oft nicht ausreichend reguliert ist. Auch, da die technische Entwicklung rasant schnell ist, und bürokratische Prozesse nicht selten überholt.
„Rerum Novarum“ als moralischer Kompass heute
„Rerum Novarum“ bietet hier Orientierung: Die Enzyklika mahnt zum Schutz der Menschenwürde, zur gerechten Gestaltung von Arbeit und zur sozialen Verantwortung des Eigentums. Diese Prinzipien sind heute ebenso aktuell wie 1891. Leo XIII. warnte: „Die Arbeiter dürfen nicht wie Sklaven angesehen und behandelt werden“, sondern „ihre persönliche Würde, welche geadelt ist durch ihre Würde als Christen“ solle „stets heiliggehalten“ werden (RN16). Diese Mahnung bleibt relevant, zum Beispiel wenn KI-Systeme Entscheidungen im Personalwesen treffen – oft ohne menschliche Rückbindung.
Besonders deutlich ist Leo XIII. beim Thema Eigentum. Zwar verteidigt er das individuelle Besitzrecht ausdrücklich, doch betont er zugleich die soziale Dimension. Eigentum verpflichtet, muss zum eigenen „Besten und zum Besten der Mitmenschen“ eingesetzt werden - und das gilt für materielles wie geistiges Eigentum (RN 19). Diese Lesart gilt auch für die digitale Welt. Daten und Plattform-Infrastrukturen stellen heute eine neue Dimension von Eigentum dar, und die Frage der gerechten Teilhabe an diesen Ressourcen wird immer drängender.
Mensch bleibt Subjekt wirtschaftlicher Prozesse
„Rerum Novarum“ fordert eine Ordnung der Wirtschaftsprozesse, die den Menschen in den Vordergrund stellt. Gerechtigkeit, Solidarität und das Gemeinwohl sind Maßstab des Handelns. Auch in einer automatisierten Welt bleibt der Mensch nicht Objekt wirtschaftlicher Prozesse – sondern ihr Subjekt. Diese Botschaft bleibt von bemerkenswerter Aktualität.
Papst Leo XIV. sendet Signal aus
Papst Leo XIV. knüpft bewusst an das Erbe von Leo XIII. an. Mit seiner Rückbesinnung auf die Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ sendet er ein Signal aus: Die Kirche zieht sich nicht aus der Debatte um die Zukunft von Arbeit, Technik und Gerechtigkeit zurück. Im Gegenteil. Wo Algorithmen entscheiden, KI Prozesse steuert und Menschen um ihre Würde fürchten, will er die Stimme der Soziallehre wieder hörbar machen. „Rerum Novarum“ bleibt ein Auftrag: Die „neuen Dinge“ unserer Zeit brauchen eine fundierte Antwort, die den Menschen nicht aus dem Blick verliert.
Menschenwürde, Solidarität und Gemeinwohl
Die Leitlinien von „Rerum Novarum“ – Menschenwürde, gerechter Lohn, Solidarität, Gemeinwohlorientierung – sind auch heute ein moralischer Kompass, um die Herausforderungen der digitalen Arbeitswelt und der KI-Epoche zu gestalten.
(vatican news)
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