Ukraine: „Die Lage im Land macht sprachlos“

Der Groß-Hospitalier des Malteserordens, Josef D. Blotz, hat letzte Woche die Ukraine besucht. Dabei informierte sich der frühere Generalmajor der deutschen Bundeswehr über Malteser-Hilfsprojekte in dem vom Krieg heimgesuchten Land.

Stefan v. Kempis sprach mit Blotz in Lviv/Lemberg.

INTERVIEW

Dr. Blotz, Sie haben jetzt mehrere Tage lang die Ukraine bereist und Malteser-Projekte besucht. Was sind Ihre Eindrücke?

Der erste Eindruck, den ich bei meiner ersten Reise hierher nach Lviv, Kyiv und Ivano-Frankivsk gewonnen habe, ist, dass die Umstände einen fast sprachlos machen können – und zwar gleichermaßen mit Blick auf die Lage, in der sich das Land befindet, wie auch, was das Engagement unserer Mitarbeiter und Freiwilligen bei den Malteser-Werken und -Diensten betrifft.

Es kann einen wirklich sprachlos machen, mit welchem Elan, mit welcher Kreativität, mit welcher Passion geradezu sich unsere Leute vom Orden hier für Menschen in Not einsetzen, ohne Rücksicht auf eigene Freizeit; es ist wirklich herzerwärmend zu sehen, dass Menschen sich für Menschen einsetzen, ganz im Geiste des Ordens, der seit tausend Jahren genau dies tut! Und ich bin extrem dankbar dafür, das miterleben und auch Dank aussprechen zu dürfen für das, was hier läuft.

Was hat Sie besonders beeindruckt oder sprachlos gemacht, wie Sie sagen?

Ja – das ist die Leidenschaft, mit der die Menschen sich um den Nächsten kümmern. Ich habe das gerade heute in Ivano-Frankivsk erlebt: Da wird nicht nur mit hoher Einsatzbereitschaft und Kreativität Hilfe geleistet, sondern diese Hilfe wird auch mit einem spirituellen Vorzeichen geleistet. Es ist beispielsweise ein Priester dabei, wenn Menschen geholfen wird oder wenn man sich im Gebet versammelt, weil die Menschen die Erfahrung gemacht haben, dass im Gebet Kraft steckt. Man sieht das dann auch an den Gesichtern der Menschen, und zwar sowohl der Helfer vom Malteserorden als auch der Freiwilligen und aller, die ich heute kennengelernt habe; man sieht das aber auch in den Gesichtern derjenigen, denen geholfen wird. Ob das Kinder sind, die betreut werden, Kriegswaisen, oder ob das Behinderte sind: Behinderte entweder, weil sie so auf die Welt gekommen sind oder weil sie im Krieg ein Bein oder einen Arm verloren haben. Man sieht den Menschen tatsächlich an – und das ist phänomenal –, dass die Sorge um Mitmenschen eben nicht nur eine Sorge um das körperliche Wohlbefinden ist oder die körperliche Verbesserung ihrer Leiden.

Bei einer Besprechung in einem Kyiver Krankenhaus
Bei einer Besprechung in einem Kyiver Krankenhaus

„Die Herausforderungen sind so komplex, dass die Lösungen auch komplex sein müssen“


Sprachlos macht Sie auch, so sagten Sie zu Beginn, die Lage, in der das Land steckt?

Ja, absolut! Ich meine: Viele von uns erleben das ja seit Jahren sehr intensiv, entweder aus den Medien oder weil sie sich in anderer Weise für die Ukraine engagieren. Man muss die Menschen unterstützen und stärken. Und das ist genau das, was der Malteserorden ja in einem bestimmten Teil des Spektrums an möglichen Hilfeleistungen tatsächlich auch tut.

Was brauchen die Menschen in der Ukraine am dringendsten? Waffen (mit Blick auf die Diskussion zum Beispiel in Deutschland gefragt)? Spenden? Geistliche Hilfe?

Ich denke, das ist ein weites Spektrum; die Herausforderungen sind so komplex, dass die Lösungen auch komplex sein müssen. Es gibt nicht diese eine Lösung oder das eine Mittel. Und es geht um Resilienz – um Resilienz während dieses Krieges, aber auch danach. Dafür Sorge zu tragen und die Menschen zu stärken: wirklich auch physisch und mental zu stärken. Das ist absolut notwendig. Das bedarf des Engagements vieler Menschen und Helfer, so wie ich das hier auch erlebt habe. Das bedarf aber auch der notwendigen Ressourcen. Ressourcen sind Menschen, die sich einsetzen, aber eben auch die notwendigen finanziellen Mittel, mit denen es nur möglich ist, diese vielen guten Werke und Dienste weiter zu erhalten. Und deswegen gilt mein Dank auch den zahlreichen Spendern, großen und kleinen, im Inland und im Ausland, die uns helfen zu helfen.

Vom Maidan in den Luftschutzbunker: Ein paar Eindrücke aus Kyiv

Sie haben eine Reihe von Gesprächen geführt, unter anderem mit dem lateinischen Bischof von Kiew und auch im ukrainischen Außenministerium. Was nehmen Sie daraus mit?

Daraus nehme ich vor allem einen Gleichklang der Auffassungen über die Lage des Landes mit und über die Notwendigkeiten, die sich für uns Malteser hieraus ergeben. Ich denke, dass man wirklich auch von einer Partnerschaft sprechen kann und muss. Und wir sind froh, dass es diese Partnerschaft mit uns, dem Malteserorden, gibt: mit staatlichen Institutionen, die unser Engagement hochschätzen, und mit den Kirchen. Das ist wie ein Dreieck, das tatsächlich schon seit vielen Jahren einen unglaublichen Effekt erzielt, gerade wegen dieser guten Zusammenarbeit und des vertrauensvollen Verhältnisses untereinander.

Für den Malteserorden gilt das in besonderer Weise: Wir genießen Gott sei Dank durch unsere Geschichte eine hohe Reputation im Land, denn seit 1991 sind wir ja schon hier. Eine hohe Reputation auch deswegen, weil wir auch auf diplomatischer Ebene aktiv sein können. Wir haben ja einen eigenen Ordens-Botschafter in Kyiv, und das hilft enorm bei der Entfaltung der humanitären Tätigkeiten, die für uns eigentlich charakteristisch sind. Wenn man das alles zusammennimmt, kann ich nur sagen, dass es wirklich jede Menge Stolz gibt – jede Menge Grund dafür, stolz zu sein auf das, was in diesen Partnerschaften läuft.

Gedenken an Malteser-Freiwillige, die im Krieg ums Leben gekommen sind, auf einem Friedhof in Ivano-Frankivsk
Gedenken an Malteser-Freiwillige, die im Krieg ums Leben gekommen sind, auf einem Friedhof in Ivano-Frankivsk

„Menschen, die in unmittelbarster Weise konfrontiert worden sind mit Tod und Verwüstung und all dem, fällt es nicht so ohne Weiteres leicht, zur Tagesordnung überzugehen“


Sie waren auch in Butscha, wo der orthodoxe Priester der dortigen Kirche ganz in der Nähe des Massengrabes von 2022 bei einer Führung für uns schwierige Dinge gesagt hat über das Thema Vergebung – nämlich, dass Vergebung nicht einfach sei, erst recht, wenn man nicht wisse, ob das Gegenüber – in unserem Fall die Russen – auch wirklich Vergebung will. Was ist Ihnen in dem Moment durch den Kopf gegangen?

Ach so vieles eigentlich… Ich habe in meinem – in meinem früheren Leben, sozusagen, als Soldat bei Auslandseinsätzen in Bosnien und in Afghanistan, oft ähnliche Gedanken gehabt und Beobachtungen machen können oder müssen. Vergebung ist natürlich nicht leicht; das muss man auch wirklich nachvollziehen können. Menschen, die in unmittelbarster Weise konfrontiert worden sind mit Tod und Verwüstung und all dem, fällt es nicht so ohne Weiteres leicht, zur Tagesordnung überzugehen.

Ich habe heute auf einem Friedhof der gefallenen Mitglieder der Malteserdienste, der Freiwilligen hier in der Ukraine, gedenken dürfen, und in einem Fall lernte ich auch die Witwe eines gefallenen Soldaten und seine Mutter kennen. Diese Mutter hat nicht nur diesen einen Soldatensohn verloren, sondern zwei Söhne und ihren Mann. Da kann man sich sehr gut vorstellen, dass Vergebung nicht leichtfällt. Ich denke aber, dass man einfach auch auf die Zeit setzen muss, denn am Ende wird es sicherlich so sein, dass man – auch, um mental gut weiterleben zu können – eben mehr nach vorne schauen kann und will als nach hinten. Doch es wird schon noch lange dauern, bis diese Wunden geheilt sind – sicherlich auch bei den Müttern von russischen Soldaten.

Unser Interview mit dem "Sozialminister" des Malteserordens, Josef D. Blotz, zu seinem Besuch in der Ukraine - Radio Vatikan

Der souveräne Malteserorden ist nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland aktiv und hilft. Sie haben eine neutrale Position, reden lieber von Konflikt als von Krieg. Hängt einem diese Neutralität wie ein Klotz am Bein, oder bedeutet das auch eine Chance?

Neutralität ist überhaupt kein Klotz am Bein, sondern wenn man sie durchhält – und man muss sie einfach wirklich durchhalten, was nicht immer ganz leicht ist –, wenn man sie also durchhält, eröffnet sie Möglichkeiten. Das liegt daran, dass sich im Lauf der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte eine Reputation und ein Prestige entwickelt haben, das uns zu einem ‚honest broker‘ macht, dem viele verschiedene Seiten ihr Vertrauen entgegenbringen können; und das ist eine der Grundvoraussetzungen dafür, dass wir rund um die Welt (wir sind ein ‚global player‘) das tun können, was notwendig ist.

Besprechung mit Botschafter Antonio Gazanti Publiese di Cotrone in Kyiv
Besprechung mit Botschafter Antonio Gazanti Publiese di Cotrone in Kyiv

Gibt es einen Moment, ein Bild, einen Satz, der Sie besonders bewegt oder getroffen hat und den Sie von hier mitnehmen?

Da müsste ich einen Moment nachdenken… Schwer zu sagen, weil das so viele Eindrücke sind, die ich auch erst alle verarbeiten muss. Ein besonderer Eindruck war sicherlich der Besuch in Butscha, das ist ganz klar, das kann man nicht einfach so abschütteln. Aber auch der Eindruck, den ich von den verwundeten Soldaten gewonnen habe, denen wir helfen, wieder ins Leben zurückzukehren, indem wir ihnen Prothesen vermitteln. Der Eindruck von Kriegswaisen, ganz vielen kleinen Kindern, denen wir versuchen, wieder Lebenshoffnung einzuhauchen, und das gelingt auch sehr schön. Man kann es nicht auf einen Satz reduzieren… Doch was man nicht sagen kann, kann man vielleicht zeigen. Und uns ist in diesen Tagen bis jetzt schon sehr viel gezeigt worden, das eindrucksvoll ist, das Mut macht, dass auch zu viel Dankbarkeit Anlass gibt.


Hintergrund

Der Malteserorden ist seit mehr als dreißig Jahren in der Ukraine präsent. Seit dem Beginn des Krieges im Februar 2022 stellt er in einer gemeinsamen Anstrengung aller seiner Vereinigungen, Hilfskorps und etwa 1.000 Freiwilligen (sowohl ausländischen als auch ukrainischen) medizinische, soziale und psychologische Hilfe sowie sichere Unterkünfte für Vertriebene in der Ukraine und den Nachbarländern bereit.

Die Hilfe erreichte bislang etwa vier Millionen Menschen. Mehr als 10.000 Tonnen Hilfsgüter wurden an über 70 verschiedenen Orten verteilt; 300.000 Menschen wurden an den Grenzen versorgt und mehr als sechzig Unterkünfte für Vertriebene eingerichtet. Darüber hinaus hat der Orden 2022 zur Eröffnung einer Prothesenklinik in Lemberg beigetragen, um Opfern von Minenexplosionen zu helfen. Bis heute wurden dort mehr als 250 Prothesen bereitgestellt. Mit mehr als achtzig Millionen Euro ist das Engagement des Malteserordens in der Ukraine das bedeutendste seit dem Zweiten Weltkrieg.

(vatican news)

 

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23. September 2025, 11:49