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Durch den Krieg zerstörte Stadt in der Ukraine Durch den Krieg zerstörte Stadt in der Ukraine 

Filippo Grandi: „Humanitäres Völkerrecht hängt derzeit am Tropf“

Zwangsmigration, das dramatische Schicksal der Kriegsopfer und die Situation in von Konflikten zerstörten Gebieten waren die Themen, die der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge und Papst Leo XIV. bei einem Gespräch im Vatikan behandelten.

Francesca Sabatinelli und Christine Seuss – Vatikanstadt

Das berichtet der Mailänder nach seiner Audienz im Vatikan an diesem Donnerstag gegenüber Radio Vatikan. Grandis Amtszeit endet in wenigen Monaten am 31. Dezember. Papst Franziskus sah er mehrmals, nun traf er das erste Mal mit Papst Leo XIV. zusammen.

In dem Dialog sei es um die wichtigsten globalen Krisen gegangen, von Gaza bis Myanmar, die – wie Grandi betont – den dramatischen Gesundheitszustand des internationalen humanitären Rechts widerspiegelten, das inzwischen „am Tropf hängt“. Die Stimme des Papstes und das große Interesse des Heiligen Stuhls an vergessenen oder vernachlässigten Krisen seien, so der Hochkommissar, „von außergewöhnlicher Bedeutung“.

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Papst bedeutsamer Akteur in humanitären Fragen

Dieses erste Treffen mit dem Heiligen Vater war für mich und die Organisation UNHCR sehr positiv und, ich würde sagen, auch sehr klar in Bezug auf die Themen Flüchtlinge, Migranten und Bevölkerungsbewegungen. Der Papst bleibt – wie auch sein Vorgänger – sehr engagiert in diesen Fragen, und wir haben über die Bedeutung dieses Engagements gesprochen.“

Im Einzelnen sei es darüber hinaus um die weltweiten Krisen gegangen, die die Weltgemeinschaft mehr oder weniger besorgen, darunter auch Myanmar, wo er sich gerade aufgehalten habe, so Grandi. „Ebenso um die Migrationskrise in Lateinamerika, ein Kontinent, den der Heilige Vater bestens kennt. Es war also ein sehr fruchtbares Treffen mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche, das ich als interessiert, informiert und engagiert erlebt habe.“

Papst Leo XIV. und Filippo Grandi bei der Begegnung im Vatikan
Papst Leo XIV. und Filippo Grandi bei der Begegnung im Vatikan   (@VATICAN MEDIA)

Auch die aktuelle Politik der neuen US-Regierung sei Thema gewesen, so Grandi. „Ich habe dem Papst, auf seine Bitte hin, berichtet, welche Auswirkungen etwa die sehr deutliche Kürzung der US-amerikanischen humanitären Hilfe hat – nicht nur für UNHCR, sondern auch für andere Hilfsorganisationen und das gesamte Hilfssystem. Kürzungen, die allerdings – wie ich dem Papst erklärte und auch öffentlich oft gesagt habe – nicht nur die USA betreffen, sondern auch viele europäische Länder wie Deutschland, Frankreich oder das Vereinigte Königreich.“

Zwar betreffe dies Italien nicht, aber andere europäische Länder hätten ihre Hilfe erheblich reduziert, gibt Grandi zu bedenken.

„Wir stehen also vor einer schweren Finanzkrise, die uns nicht mehr erlaubt, all das zu tun, was wir zuvor getan haben. Wir haben auch die Meinung geteilt, dass diese Reduzierung der Hilfe widersprüchlich ist. Denn wenn die Regierungen in Europa oder die USA sagen, dass der Migrationsdruck an ihren Grenzen verringert werden soll – was man jeden Tag hört – und gleichzeitig die Hilfe in den Ländern reduziert wird, in denen die meisten Menschen leben, dann ist klar, dass es weniger Anreize gibt, dort zu bleiben, und mehr Menschen in Bewegung geraten.“

Weniger Hilfe - mehr Migration

Zwar sei er selbst nie ein „großer Befürworter“ des Arguments gewesen, dass weniger Hilfe mehr Migration erzeuge. Doch nun sehe man die Auswirkungen deutlich anhand des Beispiels des Tschad, wie er auch dem Papst erläutert habe: „Bis zum letzten Jahr machten die US-Hilfen dort mehr als 50 Prozent der internationalen Hilfe aus. Sie wurden nicht ganz gestrichen, aber massiv reduziert – ebenso durch die Europäer. Und nun kommen weiterhin Hunderttausende Menschen aus dem Sudan, vor allem aus der Region Darfur, jede Woche in furchtbarem physischem und seelischem Zustand. Der Tschad, ein sehr armes Land, lässt sie einreisen, bittet uns aber, Unterstützung zu leisten. Das können wir, aber nur noch in sehr begrenztem Umfang. Was passiert also? Menschenhändler und Ausbeuter, die in dieser Region sehr aktiv sind, überzeugen die Neuankömmlinge, weiter nach Libyen zu gehen – und Libyen ist bekanntlich das Sprungbrett nach Europa. Diese Kürzungen sind daher nicht nur aus moralisch-humanitärer Sicht gravierend, sondern auch höchst kontraproduktiv für jene Staaten, die so sehr besorgt, wenn nicht geradezu besessen sind vom Eintreffen dieser Menschen.“

„Wenn diese Barrieren fallen, gibt es keine Grenzen mehr für die Gewalt, die auch uns treffen kann“

Weltweit sei das Völkerrecht derzeit in der Krise, eine Tatsache, die ungeahnte Gefahren für die gesamte Weltgemeinschaft bieten könne, warnt Grandi angesichts von gewaltsamer Vertreibung, Hunger als Kriegswaffe und gezielter Verfolgung von Minderheiten:

„Das internationale humanitäre Recht hängt am Tropf. Einige von uns versuchen, den Zugang offen zu halten, aber er droht abgeschnitten zu werden. Das ist katastrophal. Ich hoffe, dass die Öffentlichkeit in Europa und in anderen stabileren Ländern erkennt, dass das Ende, der Niedergang des humanitären Völkerrechts, ein enormes Risiko darstellt – nicht nur für die Menschen in Gaza, Myanmar oder im Kongo, sondern für uns alle. Denn wenn diese Barrieren fallen, gibt es keine Grenzen mehr für die Gewalt, die auch uns treffen kann.“

Gerade für die Situation in Gaza sei es schwer, Worte zu finden, räumt Grandi ein, dessen Organisation dort nicht präsent ist – für die Hilfe vor Ort ist laut UN-Mandat das UNRWA zuständig, welches Grandi selbst mehrere Jahre geleitet hatte und das nun unter „enormem Druck“ steht, so Grandi:

„Es ist schwer, Worte zu finden, aber ich würde sagen: Bestürzung und Entsetzen sind die Begriffe, die die Situation in Gaza am besten beschreiben – das Massaker, der Druck auf die Zivilbevölkerung, sie aus ihren Häusern und Städten in das kleine Gebiet des Gazastreifens zu vertreiben, das sie nicht verlassen können. Ein Drama auf vielen Ebenen, mit Toten, Kindern, die sterben, Menschen, die beim Versuch, Hilfe zu erhalten, ihr Leben verlieren, weil die Hilfe blockiert wird. Eine lange Liste von Schrecken, schwersten Verletzungen des Völkerrechts, die eine Situation schaffen, die für Jahrzehnte, für Generationen katastrophale Auswirkungen auf die Palästinenser haben wird – und die auch Israel und die gesamte Menschheit verfolgen wird.“

Schwer, Worte für die Situation in Gaza zu finden

Der Papst habe „sein tiefstes Mitgefühl“ für diese Situation geteilt, berichtet Grandi weiter aus der Audienz. Doch all seine Appelle für einen Waffenstillstand und für die Freilassung der Geiseln, die er in den letzten Wochen unermüdlich ausgesprochen habe, schienen „ungehört zu verhallen“, während „die Tragödie weitergeht, fast schon vollendet ist“, klagt der Flüchtlings-Kommissar. Dabei dürfe man jedoch auch das Westjordanland nicht vergessen: „Die nahezu uneingeschränkte Ausweitung der Siedlungen durch israelische Siedler ist ein weiterer klarer Bruch des Völkerrechts. Ich habe viele Jahre meines Lebens in Palästina verbracht. Schon damals war Dialog und Verhandlung schwierig. Heute sind die Zustände ungleich schwerwiegender.“

Eine weitere Krise, die dem Papst Sorge bereitet, jedoch aus der öffentlichen Wahrnehmung geradezu verschwunden zu sein scheint, betrifft die Situation der Menschen in Myanmar – nicht nur der Rohingya, die unter Vertreibung leiden, sondern auch die der übrigen Bevölkerung, die mit dem Militärregime nicht in Einklang steht:

„Ich möchte es offen sagen: Der Heilige Stuhl ist einer der wenigen Orte auf der Welt, an denen ich – wie viele andere Kolleginnen und Kollegen – über weitgehend vergessene oder vernachlässigte Krisen sprechen kann und wo es Resonanz, Interesse und Engagement gibt. Das ist mein letzter Besuch in Rom, im Vatikan, als UN-Hochkommissar für Flüchtlinge. Aber ich wollte dem Papst sagen: Diese Aufmerksamkeit, diese Sensibilität, diese Stimme für die Leidenden sind von außergewöhnlicher Bedeutung für die katholische Kirche. Und ich bin sicher, dass sie mit Papst Leo weitergeführt wird, so wie es bei Papst Franziskus der Fall war.“

„Diese Aufmerksamkeit, diese Sensibilität, diese Stimme für die Leidenden sind von außergewöhnlicher Bedeutung für die katholische Kirche“

Myanmar sei „eine jener Krisen, die fast unlösbar erscheinen“, meint Grandi angesichts der international nicht anerkannten Regierung, die sich im Februar 2021 an die Macht geputscht hatte und nur einen Teil des Landes unter Kontrolle hat – kontrastiert durch verschiedene ethnische und nationale Bewegungen in anderen Landesteilen: „Eine komplexe Galaxie bewaffneter Gruppen“, wie Grandi es nennt. „Der Konflikt hat sich verschärft, mit Luftangriffen der Zentralregierung und schweren zivilen Verlusten, aber auch Missbrauch durch bewaffnete Gruppen“, so der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge. Das UNHCR kümmere sich dort um Binnenvertriebene und humanitäre Fragen, insbesondere um die muslimische Minderheit der Rohingya, die zu den „am stärksten marginalisierten und unglücklichsten Minderheiten der Welt“ gehören, so Grandi: „Die Rohingya sind zugleich Flüchtlinge und Staatenlose, da ihnen die Staatsangehörigkeit verweigert wird. Wir sprechen als humanitäre Organisation mit allen Akteuren, die Gebiete kontrollieren – sei es in Myanmar, im Kongo oder anderswo. Aber optimistisch bin ich nicht, die internationalen Einflüsse sind kompliziert, Myanmar ist isoliert und schwer zugänglich.“

Ein Mosaik von Krisen

Die Welt sei inzwischen „ein Mosaik von Krisen“, bedauert der UN-Fachmann: „Deshalb gibt es heute mehr als 120 Millionen Flüchtlinge weltweit: weil Kriege keine Grenzen mehr kennen, was die Zivilbevölkerung betrifft. Die wenigen Schranken, die das Völkerrecht errichten konnte, verlieren an Kraft. Wenn dann Staaten wie Russland oder Israel solche Verstöße in völliger Straflosigkeit begehen, schafft das einen globalen Kontext der Straflosigkeit, in dem auch kleinere Akteure unermessliches Leid verursachen können. Deshalb fliehen die Menschen heute schneller, massiver und mit größerem Schrecken als je zuvor.“

(vatican news)

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19. September 2025, 11:38