Pizzaballa: Neue Sprache und Akteure für Friedensaufbau nötig
Andrea Tornielli, Beatrice Guerra und Christine Seuss - Vatikanstadt
Pizzaballa untereicht in dem Gespräch an diesem Mittwoch, 15. Oktober 2025, dass die aktuelle Ruhephase zwar brüchig sei, aber von vielen Israelis und Palästinensern als Chance gesehen werde, endlich wieder ein normales Leben zu beginnen – frei von Krieg und Gewalt. Doch die Menschen stünden vor einer schwierigen Situation:
„Alles muss erst neu aufgebaut und organisiert werden, daher sind Schwankungen unvermeidlich. Es bleibt eine dramatische Situation, denn alles ist zerstört. Die Menschen kehren zurück, aber sie kehren zu Trümmern zurück. Krankenhäuser funktionieren nicht, Schulen gibt es nicht”, zählt der Kardinal auf.
Ungelöst sei auch nach wie vor das Problem der Leichen israelischer Geiseln, die geborgen werden müssten, so der Patriarch von Jerusalem. Viele von ihnen seien durch das Chaos des Krieges verschollen: „Das Misstrauen zwischen den Seiten ist groß. Und doch gibt es – trotz allem – ein neues Klima, noch zerbrechlich, aber hoffnungsvoll, dass es sich stabilisieren könnte.“
Neue Gesichter für den Frieden
Frieden brauche jedenfalls seine Zeit und beginne nicht automatisch mit einem Ende der Kampfhandlungen. „Man darf Hoffnung nicht mit einer Lösung des Konflikts verwechseln. Das muss man klar sehen. Dennoch ist das Ende der Gewalt der erste Schritt. Hoffnung ist, wie ich immer sage, die Tochter des Glaubens. Wenn die Seele Vertrauen hat, kann sie auch das verwirklichen, woran sie glaubt“, so der Kardinal.
Allerdings brauche es für den Aufbau des Friedens Menschen, die bereit seien, sich erneut zu engagieren und Netzwerke zu schaffen, innerhalb und außerhalb Gazas. „Ich glaube, wir brauchen eine neue politische und religiöse Führung. Neue Gesichter, neue Persönlichkeiten, die helfen, ein anderes Narrativ zu schaffen – eines, das auf gegenseitigem Respekt basiert.“
Dies werde wohl „lange dauern, weil die Wunden tief sind“, doch man dürfe nicht aufgeben, so der Appell des italienischen Kardinals, der schon seit 1990 im Heiligen Land lebt und wirkt. Mit Blick auf die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden meint er: „Man muss daran glauben und es wollen. Die Zeiträume werden lang sein – wir dürfen uns keine Illusionen machen. Und wir müssen auch die Fehler früherer Abkommen im Blick behalten, die das Vertrauen zwischen den Seiten schwer beschädigt haben“, gibt er zu bedenken. Seine Hoffnung setzt er deswegen in die neue Generation, die vielleicht „die Freiheit haben“ werde, die der aktuellen Generation und ihren Führungspersönlichkeiten fehle. „Aber die Aufgabe dieser Generation ist es, die nächste vorzubereiten – Schritt für Schritt die Voraussetzungen zu schaffen, neue Führungsfiguren, neue Kontexte und eine Kultur des Respekts, die schließlich den Frieden trägt.“
Ende von zwei schrecklichen Jahren
Einen Weg zum Frieden zu finden, sei jedenfalls die Hoffnung vieler Menschen im Heiligen Land, unterstreicht er:
„Im Moment befinden wir uns in einer neuen, noch sehr fragilen Phase. Wir kommen aus zwei schrecklichen Jahren, und die Hoffnung besteht darin, dass diese Zeit wirklich zu Ende geht – und keine bloße Atempause bleibt. Diese Hoffnung ist bei allen gleich, Israelis wie Palästinensern, ob rechts, links, oben oder unten – alle wünschen sich, dass man endlich eine neue Seite aufschlagen kann.”
Dafür braucht es jedoch zunächst den festen Willen zum Frieden – und auch die Anerkennung des Leids des anderen, das während des Krieges zunehmend aus der eigenen Wahrnehmung gerückt sei:
„Jeder war in seinem eigenen Schmerz gefangen, sah nur das Leiden seines eigenen Volkes, seiner eigenen Perspektive. Jetzt, da diese Phase vorbei ist, können wir uns vielleicht langsam öffnen, um auch den Schmerz des anderen zu verstehen.“
Frieden braucht Zeit
Verstehen heiße jedoch nicht rechtfertigen, ebenso wie es dazu Zeit brauchen werde, gesetzt dem Fall, dass es überhaupt gelingen könne. „Der Hass, der gesät wurde – nicht nur in diesen zwei Jahren, sondern schon vorher, genährt von einer Erzählung der Verachtung, Ablehnung und Ausgrenzung –, erfordert eine neue Sprache, neue Worte und neue Zeugen. Man kann nicht trennen, was gesagt wird, von wem es gesagt wird. Deshalb wiederhole ich: Wir brauchen neue Persönlichkeiten, die uns helfen, anders zu denken.“
Mit Blick auf das Westjordanland bemerkt er, dass dort die Lage zunehmend unsicher sei: viele Dörfer seien isoliert, Checkpoints erschwerten das Leben, und es fehle an funktionierender Autorität. Auch wirtschaftlich leide die Region, da sowohl der Pendelverkehr nach Israel als auch der Tourismus stillständen.
Die jüngsten Friedensdemonstrationen weltweit wertet er insgesamt als positiv, da sie zeigten, dass viele Menschen – trotz extremistischer Auswüchse – gegen Gewalt und für die Würde jedes Menschen eintreten. Solche Bewegungen könnten ein neues Gemeinschaftsgefühl stärken, auch wenn dabei teils zu Tage getretene antisemitische Äußerungen und Aktionen auf keine Weise akzeptabel seien, betont Pizzaballa.
Hoffnung auf die Rückkehr der Pilger
Im Heiligen Land werde man nun gemeinsam mit der Kustodie die Entwicklung beobachten, in der Hoffnung, dass die Situation stabil bleibe:
„Dann müssen wir beginnen, die Kirchen weltweit zu ermutigen, vor allem jene, die dem Heiligen Land in den letzten zwei Jahren besonders nahegestanden haben. Wir müssen sagen: Es ist Zeit, die Solidarität nicht nur durch Gebet – so wichtig es ist – und durch Hilfe zu zeigen, sondern auch durch Pilgerfahrten.“
Interreligiöser Dialog wichtig
In diesem Jahr jährt sich die Ermordung von Jitzhak Rabin, der für seine Friedensbemühungen im Nahen Osten gemeinsam mit seinem damaligen Außenminister Schimon Peres und dem langjährigen PLO-Führer Jassir Arafat den Friedensnobelpreis erhalten hatte, zum 30. Mal. Doch seine Anstrengungen seien durch die religiösen Führungspersönlichkeiten nicht ausreichend unterstützt worden, gibt Pizzaballa zu bedenken. Rabin war im November 1995 durch einen jüdischen Fanatiker bei einer Veranstaltung getötet worden.
„Vor 30 Jahren sagte Rabin das eine, und die religiösen Führer sagten etwas anderes. Heute müssen wir das ändern. Dessen müssen wir uns bewusst werden. In diesem Zusammenhang ist der interreligiöse Dialog sehr wichtig.“
Doch auch dieser Dialog brauche neue Gesichter und könne „nicht so tun, als wäre nichts geschehen“, gibt Pizzaballa weiter zu bedenken: „Wir alle sind durch das, was passiert ist, verletzt worden. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, was geschehen ist, was wir gesagt und nicht gesagt haben – nicht um dort stehenzubleiben, sondern um weiterzugehen, im Bewusstsein dessen, was war. Wir dürfen nicht naiv sein – die Schwierigkeiten sind groß. Aber wir haben eine Verpflichtung gegenüber unseren Gemeinschaften, ihnen zu helfen, positiv und mit Gelassenheit in eine andere Zukunft zu blicken.“
Palästinenser brauchen Würde als Volk
Zum Thema des palästinensischen Staates meint er, die Palästinenser bräuchten nicht nur ein Ende des Krieges und wirtschaftliche Hilfe, sondern auch die Anerkennung ihrer Würde als Volk.
„Ich weiß nicht, ob die sogenannte ,Zwei-Staaten-Lösung' kurzfristig umsetzbar ist – ich will diese politische Frage hier nicht vertiefen. Aber man kann den Palästinensern nicht sagen, dass sie kein Recht haben, als Volk in ihrem eigenen Land anerkannt zu werden. Es gab viele politische Erklärungen, die oft bloße Prinzipien geblieben sind. Diese müssen nun konkrete Formen finden – in einem Dialog zwischen den Parteien, mit Unterstützung und Begleitung durch die internationale Gemeinschaft.“
Die konkrete Nähe von Papst Franziskus und Papst Leo habe man in dieser gesamten Zeit deutlich gespürt, zeigt sich Kardinal Pizzaballa dankbar. So hätten sie die Gemeinden im Heiligen Land nicht nur geistlich, sondern auch materiell unterstützt – zuletzt durch die Lieferung von Medikamenten nach Gaza. Der Ordensmann ist derzeit in Italien, um dort einen Preis für Gabriel Romanelli, den Pfarrer in Gaza, entgegenzunehmen.
(vatican news)
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