Suche

Archivbild: Kerze vor der Mauer mit den Namen deportierter Juden im Shoah Memorial in Paris Archivbild: Kerze vor der Mauer mit den Namen deportierter Juden im Shoah Memorial in Paris 

80 Jahre nach Ende der Shoah: Was kann Kirche zur Erinnerungsarbeit beitragen?

Zeitzeugen, die die Shoah erlebt und überlebt haben, gibt es fast keine mehr. Auch deshalb sind andere Strategien erforderlich, um das Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors wach zu halten. Einige Wege, wie dies gelingen kann, und welche Rolle die Kirche dabei spielen sollte, hat Michael Hermann für uns recherchiert.

Michael C. Hermann - Paris

„Wir sind ganz junge Bäumchen“ ist ein Lied, das 1941 der ins das Lager Gurs in Südfrankreich deportierte Alfred Cahn aus Speyer komponiert hat. Musik aus Internierungslagern neues Leben zu geben, hat sich Melina Burlaud aus Pau, nahe der spanischen Grenze, zur Lebensaufgabe gemacht. Über die Bedeutung der Musik sagt sie: „Das letzte Menschliche zum Ausdruck zu bringen, ist eben in diesen Internierungslagern entstanden - als letzter Widerstand gegen die Barbarei und um die Menschlichkeit irgendwie zu retten“, sagt die Musikwissenschaftlerin, die mit der Musik vor allem auch junge Menschen erreichen will.

„Ein Zugang besteht unter anderem darin, dass wir mit künstlicher Intelligenz versuchen, Opferbiografien, die natürlich auf realen Ereignissen basieren, zu rekonstruieren“

Hier zum Nachhören

Rita Althausen aus Mannheim ist davon überzeugt, dass sich die Art und Weise des Erinnerns ändern müsse: „Es ist ja schon zum Teil die dritte und vierte Generation nach dem Krieg. Und die sagen dann: Mein Vater, mein Großvater, die haben keine Juden ermordet, was ja auch stimmt. Man muss die jetzt also anders einbinden“, sagt sie. Die pensionierte Lehrerin ist bei der Israelitischen Religionsgemeinschaft aktiv. Ihr Vater konnte aus dem Lager Gurs nach Spanien fliehen und hat die Shoah überlebt. Auch Bernhard Kukatzki, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Mainz, bestätigt, dass man neue Wege in der Erinnerungsarbeit gehen muss. „Wir müssen die Tik-Tok-Generation auch in den sozialen Medien abholen.“ Dabei müsse man Informationen auf neuartige Weise verbreiten: „Ein Zugang besteht unter anderem darin, dass wir mit künstlicher Intelligenz versuchen, Opferbiografien, die natürlich auf realen Ereignissen basieren, zu rekonstruieren.“

Freiburgs Weihbischof Peter Birkhofer vor dem Gelände des ehemaligen Internierungslagers Gurs in Südfrankreich. Im Oktober 1940 wurden dorthin die Jüdinnen und Juden aus Südwestdeutschland deportiert. Viele der 6500 Menschen starben in dem Lager, Überlebende wurden später in den Vernichtungslagern im Osten ermordet. Nur ein kleiner Teil überlebte. Foto: Michael Hermann
Freiburgs Weihbischof Peter Birkhofer vor dem Gelände des ehemaligen Internierungslagers Gurs in Südfrankreich. Im Oktober 1940 wurden dorthin die Jüdinnen und Juden aus Südwestdeutschland deportiert. Viele der 6500 Menschen starben in dem Lager, Überlebende wurden später in den Vernichtungslagern im Osten ermordet. Nur ein kleiner Teil überlebte. Foto: Michael Hermann

Opferbiographien neu rekonstruiert

Für Tino Leo, einen Theatermacher und Schauspieler aus Mainz, sollte Theater eine große Rolle spielen: „Theater kann die Zeit konservieren, weil man über Menschen erzählt. Und wenn man Dinge erleben und spüren kann, kann man besser verstehen, um was es geht. Und ich glaube, dass das ein absoluter Mehrwert ist bei der Gedenkarbeit.“ Das bestätigt auch Agnes, eine 17jährige aus Lebach im Saarland, die in einem deutsch-französischen Theaterprojekt die von den Nazis deportierte Emmy Weiler spielt: „Das ist in erster Linie ein Mensch, der auf jeden Fall gelebt hat und dem ich einfach nachempfinden kann. Ich kann mich einfühlen, anstelle nur eine Rolle wie aus einem Bilderbuch nachzuspielen. Ich kann das mit Empathie nachempfinden.“

Szenenbild aus der Theaterproduktion „Wir sind ganz junge Bäumchen“ der Jungen Theaterakademie Offenburg. Schüler aus Deutschland und Frankreich erarbeiteten das Stück über die Deportationen nach Gurs. Es wurde vergangene Woche in Offenburg, Saarbrücken und Paris aufgeführt. Foto:  Armin Krüger
Szenenbild aus der Theaterproduktion „Wir sind ganz junge Bäumchen“ der Jungen Theaterakademie Offenburg. Schüler aus Deutschland und Frankreich erarbeiteten das Stück über die Deportationen nach Gurs. Es wurde vergangene Woche in Offenburg, Saarbrücken und Paris aufgeführt. Foto: Armin Krüger

Die damaligen Geschehnisse in Dokumentarfilmen festzuhalten, ist das große Anliegen von Dietmar Schulz. Der ehemalige ZDF-Korrespondent in Tel Aviv arbeitet derzeit an einem Film mit Interviews mit Zeitzeugen, damit deren Originaltöne der Nachwelt erhalten bleiben.

„Ich glaube, dass diese Originaltöne doch eine wichtige Funktion haben. Natürlich ersetzen sie nicht direkte Besuche in Gurs und Rivesalt beispielsweise. Denn Dokumentarfilme vermitteln zwar Informationen, aber sie können nicht den Besuch vor Ort ersetzen.“

„Nie wieder ist jetzt“

Bernhard Kukatzki von der Landeszentrale für politische Bildung in Mainz betont, dass Erinnerungsarbeit nicht eine rein staatliche Aufgabe sei, sondern vielmehr eine zivilgesellschaftliche. „Die Kirchen sind ganz wichtige Partner in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit. Sie sind überhaupt nicht wegzudenken.“

Das sieht auch der Freiburger Weihbischof Peter Birkhofer so: „Vor diesem Hintergrund ist es eine geistliche Aufgabe, aber eben auch eine Aufgabe von Kirche in der Mitte einer säkularen Gesellschaft, an einer Erinnerungskultur mitzuwirken, die wandelt, verwandelt, die die Hoffnung wachhält, die darauf hinarbeitet, dass ,nie wieder ist jetzt‘ Wirklichkeit wird, dass wir gemeinsam unterwegs sind in eine friedvollere Welt, in eine Welt, die sich ihrer Vergangenheit stellt, darin Zukunft entdecken kann. Und das glaube ich, ist Aufgabe von Kirche.“

„Die Kirchen sind ganz wichtige Partner in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit. Sie sind überhaupt nicht wegzudenken“

Vielfalt jüdischen Lebens thematisieren

Im Rahmen dieses zivilgesellschaftlichen Engagements solle aber eine andere Dimension der Geschichte der Jüdinnen und Juden in Europa nicht vergessen werden, mahnt Jaques Fredj, der Direktor des bedeutenden "Memorial de la Shoah", also der zentralen Holocaust-Gedenkstätte Frankreichs in Paris. „Wir erleben einen wachsenden Antisemitismus. Es ist sehr wichtig, antisemitische Vorurteile abzubauen. Aber wir sollten auch über die Vielfalt jüdischen Lebens sprechen. Jüdische Geschichte ist nicht nur eine, die durch Negativität geprägt ist. Es ist auch eine positive Geschichte – in Deutschland und in Frankreich.“

(vatican news)

 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

07. November 2025, 09:54