Sozialwissenschaftler Spieker lobt „halbe Enzyklika“
Stefan von Kempis - Vatikanstadt
„Meine Frau lebt seit dem 1. November 2018 in einem Pflegeheim in einem Nachbarort, das der dortigen Pfarrei untersteht“, berichtet Spieker. „Wir haben im Jahr 2012 die Diagnose Alzheimer bekommen und fünf Jahre allein damit gelebt, fast zwei Jahre mit polnischen Haushaltshilfen – dann konnten wir noch sehr schön die Goldene Hochzeit feiern, aber zwei Wochen nach der Goldenen Hochzeit kam eine Harnwegsinfektion, die die Demenzerkrankung kräftig beschleunigte.“
Nach wenigen Wochen mit ambulanter Pflege habe er darum für seine Frau den angebotenen Platz im St.-Anna-Stift in Hagen angenommen – und das bis heute nicht bereut.
„Meine Frau erkennt mich noch. Sie lacht noch. Ihr Mitsingen, wenn ich mit ihr Lieder in der dortigen Kapelle singe, wird immer schwächer, aber es ist ein gutes Haus, und nachdem ich diese halbe Enzyklika, wie man schon fast sagen muss, also diesen langen Text der Glaubenskongregation gelesen habe, muss ich sagen: Das St.-Anna-Stift in Hagen besteht die Prüfung durch dieses Dokument vollkommen.“
Umgekehrt, so Spieker, besteht aber auch der Brief der Glaubenskongregation den Test der Wirklichkeit, wie er sie erlebt. Der emeritierte Sozialwissenschaftler betont vor allem die „politischen Dimensionen“ des Schreibens aus dem Vatikan.
Fatale Entwicklung
„Es gibt ja nun zunehmend Länder, die den assistierten Suizid legalisieren. In den Benelux-Ländern ist das schon länger der Fall, und in Deutschland wird nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar noch heftig diskutiert. Ich habe damals schon den Leiter dieses Stifts gefragt, wie er denn mit dem Fall umgehen würde, wenn nun der assistierte Suizid zu einem Grundrecht erklärt wird und ein Bewohner seines Hauses das in Anspruch nehmen möchte. Das hielte ich für eine fatale Entwicklung, und das Dokument der Glaubenskongregation schiebt dem ja auch deutlich einen Riegel vor.“
Tatsächlich ist das Vatikanpapier in diesem Punkt eindeutig: Euthanasie wertet es als „ein Verbrechen gegen das menschliche Leben“ sowie als „in sich schlechte“ Handlung – und zwar „bei jeder Gelegenheit oder unter allen Umständen“. „Jedwede direkte formelle oder materielle Mitwirkung“ daran sei „eine schwere Sünde gegen das menschliche Leben“, und keine Autorität könne sie „rechtmäßig anordnen oder zulassen“.
Spieker: „Ich sehe keine andere Möglichkeit, als dass der Leiter eines katholischen Pflegeheimes dann dem Bewohner, der den assistierten Suizid in Anspruch nehmen möchte, den Belegungsvertrag kündigt und ihn veranlasst, das Haus zu verlassen.“
Christliche Ärzte oder Pfleger sollten, so das Vatikandokument, zwar den Menschen „nahe“ sein, die nach Hilfe zur Selbsttötung verlangen, doch versuchen, sie von ihrem Todeswunsch abzubringen. Es macht unmißverständlich klar, „dass man da nicht noch die Sakramente spenden kann“ (so Spieker), wenn der oder die Betreffende auf dem Wunsch nach assistiertem Suizid beharrt.
„Das halte ich für richtig!“, sagt der 77-Jährige. „Die evangelische Kirche hier sieht das anders; der Landesbischof von Hannover, Meister, hat in einem Interview in der Neuen Osnabrücker Zeitung vor wenigen Wochen gesagt, das sei legitim, in der Autonomie des Einzelnen, und die evangelische Kirche überlege, wie sie das begleitet. Es gibt ja auch katholische Einrichtungen in Belgien, die vor dieser Frage stehen und sich an der dortigen Euthanasieregelung beteiligen. Da gibt es einen Konflikt mit Rom; ich hoffe, dass Rom sich da durchsetzt und im Extremfall eben diesen Institutionen den Charakter einer katholischen Institution abspricht!“ Seit Mai dürfen sich tatsächlich auf Anweisung des Vatikans psychiatrische Kliniken des belgischen Zweigs der Gemeinschaft Broeders van Liefde (Brüder der Nächstenliebe) nicht mehr als katholisch bezeichnen.
Spieker ist Vater von sechs Kindern – und natürlich belastet es ihn, dass seine Frau in absehbarer Zeit wohl nicht einmal mehr verstehen wird, wer er ist. „In den paar Wochen, wo ich sie Corona-bedingt überhaupt nicht besuchen durfte, da habe ich mich schon gefragt, ob sie mich noch erkennt, nachdem ich fünf Wochen lang nicht da war… Aber sie hat sich so gefreut, als ich dann wieder kommen durfte!“
„Auch jetzt haben wir noch schöne Stunden“
Er habe in den schweren Wochen der Corona-Einschränkungen das St.-Anna-Stift noch mehr schätzen gelernt, denn der Heimleiter habe, als im März das Besuchsverbot erlassen wurde, für einige Bewohner doch „individuelle Regelungen getroffen, dass sie wenigstens noch einmal die Woche kommen konnten“. Ab dem 10. Juni sei dann der tägliche Besuch wieder erlaubt gewesen.
„Also, natürlich ist das schwer, zu erkennen, wie dieser geistige Prozess fortschreitet… Aber noch sind wir in einer Lage, wo das Erkennen, das Lachen und selbst das Mitsingen (auch wenn es sich nicht mehr auf eine Zeile, sondern nur noch auf ein Wort beschränkt) doch Freude machen und ich den Eindruck habe: Auch jetzt haben wir noch schöne Stunden.“
Den inhaltlichen Aussagen des neuen Vatikandokuments stellt Spieker ein „durchweg gutes Zeugnis“ aus. „Meine einzige Kritik betrifft die Länge: Ich halte es für etwas zu lang mit 32 Seiten. Das wird kaum ein Leiter einer katholischen Einrichtung komplett durcharbeiten. Ich hätte mir gewünscht, es wäre nur halb so lang.“
Doch alle Punkte, die das Dokument behandle, darunter auch Palliativversorgung, Sedierung oder Wachkoma, seien nun mal „sehr wichtig“.
„Ich habe selbst schon in den letzten zwanzig Jahren öfter erlebt, dass darüber gestritten wurde, ob eine künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr Pflicht sei, oder ob das als therapeutische Massnahme auch unterlassen werden kann. Ärzte sehen das gerne als therapeutische Massnahme an und sagen: Dann liegt das in unserer Kompetenz, das durchzuführen oder nicht durchzuführen.“
Da sei das Dokument ganz klar: Es stufe Ernährung und Wasserzufuhr als pflegerische Massnahmen ein, die in jedem Fall zu leisten seien. „Von daher sorgt das Dokument durchaus für Klarheit… Ich halte es für wichtig, für richtig und für gut!“
Offizielle deutsche Übersetzung kommt
Der Brief Samaritanus bonus liegt bislang in offizieller Übersetzung in den Sprachen Italienisch, Englisch, Spanisch und Portugiesisch vor. Eine deutsche Fassung soll demnächst veröffentlicht werden.
(vatican news in kooperation mit k-tv)
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