Suche

Vor 15 Jahren wurde in Österreich die Unabhängige Opferschutzkommission unter dem Vorsitz von Waltraud Klasnic (Foto) eingerichtet Vor 15 Jahren wurde in Österreich die Unabhängige Opferschutzkommission unter dem Vorsitz von Waltraud Klasnic (Foto) eingerichtet  (© Kathpress/Paul Wuthe)

Österreich: Hochrangige Tagung zu Kinderschutz und Missbrauchsprävention

Vor 15 Jahren wurde in Österreich die Unabhängige Opferschutzkommission unter dem Vorsitz von Waltraud Klasnic eingerichtet. Aus diesem Anlass fand am Dienstag im Wiener Erzbischöflichen Palais eine Tagung statt. Expertinnen und Experten fordern eine Phase der vertieften öffentlichen Debatte über die Gründe des Missbrauchs.

Klasnic hatte 2010 im Auftrag der Bischofskonferenz die Verantwortung übernommen, die neue Struktur aufzubauen und Opferschutz sowie finanzielle Hilfen in einem transparenten Verfahren zu verankern. Unter dem Titel „Die Wahrheit macht euch frei" widmete sich die Veranstaltung aktuellen Herausforderungen und der Rückschau auf kirchliche Aufarbeitung. Neben der Buchpräsentation mit gleichnamigem Titel standen Beiträge von Fachleuten sowie ein Gespräch zwischen Kardinal Christoph Schönborn und Waltraud Klasnic im Mittelpunkt.

Zum Nachhören - was die langjährige Opferschutzanwältin Waltraud Klasnic sagt

Klasnic, die 2025 scheidende Vorsitzende der Kommission, die frühere steirische Landeshauptfrau, feierte in diesem Rahmen auch ihren 80. Geburtstag.  Ihre Nachfolge tritt mit Jahresbeginn 2026 die Strafrechtsexpertin Caroline List an, bisher Präsidentin des Landesgerichts für Strafsachen in Graz.

Der Journalist und „Standard“-Kolumnist Hans Rauscher, die Generalsekretärin der Österreichischen Ordenskonferenz, Sr. Christine Rod, und der frühere Caritas-Präsident Franz Küberl plädierten in Statements zur Eröffnung der Tagung „Die Wahrheit wird euch frei machen“ für „Transparenz, Offenheit und Realismus“ im Umgang mit und bei der Kommunikation von Missbrauch in der Kirche.

Der Journalist Hans Rauscher räumte ein, dass in den vergangenen 15 Jahren zwar viel über das Thema Missbrauch berichtet worden sei, es jedoch „ein kleines Defizit“ gebe im Blick auf Analysen der Ursprünge und Motive des Missbrauchs - in der Kirche, aber auch in anderen gesellschaftlichen Einrichtungen. „Warum wurden die Missbrauchsfälle so lange verdrängt und vertuscht? Warum hat man den Betroffenen nicht geglaubt? Was stimmt nicht mit den Institutionen?“ Vor dem Hintergrund dieser Fragen sei es um so wichtiger gewesen, dass Kardinal Schönborn den Schritt auf Waltraud Klasnic zu gemacht habe, hielt Rauscher fest. „Es gehört Mut und Kraft dazu, die Verleumdung aktiv anzugehen - und auch, sich den Berichten der Opfer auszusetzen. Diesen Mut haben Klasnic und Schönborn bewiesen“. Nun müsse dieser Mut sich auch in Form eines öffentlichen Bewusstseins niederschlagen, so Rauscher – „und da braucht es wohl auch in meiner eigenen Branche ein Stück weit Selbstaufklärung“.

Eine Debatte über die verschiedenen Formen von Schuldverstrickung auf individueller wie auf struktureller und institutioneller Ebene mahnte auch die Generalsekretärin der Ordenskonferenz. Sr. Christine Rod, ein. „Ich sehe gerade auch im Blick auf die Orden bei dem Thema viel strukturelle Schuld, über die wir nachdenken sollten“, so Rod. Zugleich gelte es festzuhalten, wie viel schon geschehen sei: „Wir haben getan, was wir konnten, wir haben die Sache nicht schleifen lassen“. Auch dies dürfe - bei aller Kritik und bei allem, was noch zu tun bleibe - an einem Tag wie heute gesagt werden.

„Gut gedacht und gut gemacht“

Auf die wachsende öffentliche Sensibilität beim Thema Missbrauch machte der frühere Caritas-Präsident Franz Küberl aufmerksam. Missbrauch und Gewalt wurzle tief in den Seelen der Menschen und reiche oftmals Generationen zurück, erinnerte Küberl an Zeiten sogenannter „schwarzer Pädagogik“ und „autoritärer Führungsstile“ aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Neben einer öffentlichen Debatte über solche Fragen dürfe man auch die „volksbildnerische Funktion“ von Gesetzesreformen und einschneidenden Ereignissen wie dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) nicht unterschätzen: Habe etwa die Familienrechtsreform von 1975 mit der Ahndung väterlicher familiärer Gewalt und später die Aufnahme der UN-Kinderrechtskonvention in die Verfassung zu einem nachhaltigen Umdenken in der Gesellschaft geführt, so habe das Konzil diese Kehrtwende in der kirchlichen Öffentlichkeit gebracht.

Die Einrichtung der Opferschutzanwaltschaft würdigte Küberl als „nicht nur gut gedacht, sondern auch gut gemacht“ - nach 15 Jahren sei es nun wichtig, „den nächsten Schritt zu gehen“ und vermehrt das Thema der Prävention in den Blick zu nehmen - und zwar nicht beschränkt auf den kirchlichen Raum. Schließlich geschehe ein großer Teil des Missbrauchs im privaten Milieu bzw. im familiären Umfeld und nicht im kirchlichen Bereich, erinnerte Küberl. Außerdem votierte Küberl dafür, in dem Kontext weniger von Opfern als vielmehr von Betroffenen zu sprechen - schließlich seien diese Personen nicht nur Opfer, sondern Menschen mit vielfältigen Talenten; sie als „Opfer“ zu bezeichnen, trage die Gefahr in sich, sie auf ihre Opferrolle zu beschränken. Gleiches gelte im Übrigen für die Rede von den „Tätern“.

„Dilemma“ bei kirchlichen Disziplinarverfahren

Reformbedarf ortete Küberl in den kirchlichen Disziplinarverfahren im Umgang mit Missbrauchstätern. Dadurch, dass diese „der Beichte nachgebildet“ seien, blieben getroffene disziplinäre Maßnahmen und Sanktionen für die Betroffenen verborgen. Dies sei ein „Dilemma“, da es für Betroffene wichtig sei, zu erfahren, ob ihr Leiden auch zu Konsequenzen geführt habe.

Eröffnet wurde die Tagung am Dienstagvormittag mit Grußworten u.a. von Erzbischof Franz Lackner und Bischof Benno Elbs. Elbs hatte in seinem Grußwort die Ereignisse der vergangenen 15 Jahre kursorisch nachgezeichnet und die Genese der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft dargestellt. Darüber hinaus zollte er auch all jenen Personen ausdrücklich Dank, die sich oft im Hintergrund und wenig öffentlich bedankt in den Dienst der Sache gestellt haben - so u.a. Rita Kupka-Baier, die Elbs als eine der Vorständinnen der Stiftung Opferschutz als „Grand Dame des Opferschutzes in Österreich“ würdigte.

Dank an „Grand Dame des Opferschutzes“

In den vergangenen 15 Jahren seit Einsetzen der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft auf Ersuchen von Kardinal Christoph Schönborn habe sich im Blick auf den Umgang mit dem Thema Missbrauch im kirchlichen Kontext „vieles in Österreich verändert - und auch darüber hinaus“: Das sagte die bisherige und langjährige Opferschutzanwältin Waltraud Klasnic am Rande der Tagung am Dienstag in Wien im Gespräch mit Kathpress. „Die Menschen haben in dieser Zeit Vertrauen gefasst“, und auch international genieße das österreichische Modell einer Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft hohes Ansehen.

Dennoch bleibe vieles zu tun: „Vielleicht haben wir es verabsäumt, mehr darüber zu reden, dass es nicht nur in der Kirche zum Missbrauch kommt, sondern zu 80 Prozent in Familien, Vereinen und Organisationen“, so Klasnic. Den reinen Zahlen nach würden nur 1,5 Prozent der Missbrauchsfälle die Kirche betreffen – „das dürfen wir nicht verharmlosen, weil es nicht passieren darf“, fügte Klasnic hinzu. Aber es sollte künftig stärker auch die gesellschaftliche Dimension in den Blick genommen werden, so Klasnic, die ihr Amt Ende des Jahres an Caroline List übergeben wird.

Auf die Frage, ob nicht künftig auch die Täterseite stärker in den Blick genommen werden sollte, antwortete Klasnic, dass ihr Mandat von Beginn an dem Blick auf die Betroffenen galt: „Mein Auftrag sind die Betroffenen und all jene, die in Folge des Missbrauchs mit dem Leben nicht mehr fertig werden“. Mit Tätern habe sie so gut wie nie gesprochen - dazu gebe es im Übrigen die diözesanen Kommissionen, in denen über Sanktionierungen und Disziplinierungsmaßnahmen befunden werde.

Großes Lob von Pater Zollner

Ein Höhepunkt der Tagung war ein Vortrag des internationalen kirchlichen Safeguarding-Experten P. Hans Zollner. Der deutsche Jesuit brachte in seinem Beitrag hohe Anerkennung und Wertschätzung für die österreichische Opferschutzanwältin Waltraud Klasnic und Kardinal Christoph Schönborn zum Ausdruck. Was Klasnic und die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft in den vergangenen 15 Jahren geschaffen habe, sei  „ein herausragendes Element eines systemischen Vorgehens, das auch in anderen Bereichen aufgenommen werden sollte", sagte Zollner bei einem Vortrag am Dienstag in Wien.

Er habe  „tiefen Respekt" vor der Leistung Klasnics und Schönborns, die für Kirche und Gesellschaft  „von unschätzbarem Wert" sei, so Zollner.  „Ihr entschlossenes Eintreten für Wahrheit, Gerechtigkeit und die Unterstützung der Betroffenen hat vielen Menschen, die durch Missbrauch und Gewalt tief verletzt wurden, einen Weg zu Gehör, Hilfe und Würde eröffnet." Damit hätten Klasnic und Schönborn  „ein wichtiges, zutiefst menschliches Signal in unsere Kirche und in die Gesellschaft" gesendet.

In seinem Vortrag zeigte Zollner auf, dass Missbrauch in der Kirche keine Frage von Einzeltätern, sondern systemischen Ursprungs sei. Schließlich sei Kirche ein komplexes System von zahlreichen Strukturen, Abhängigkeiten und Verbindlichkeiten - zwischen Pfarren, Priestern, Verwaltung, Leitungsebenen, Verbänden, Angestellten etc. Ein solches System könne viel Gutes leisten, weil es immer mehr leiste, als seine einzelnen Glieder. Zugleich aber könne es für Betroffene von Missbrauch zu einer  „Nebelwand" werden, mit der das System seine Glieder schütze und eine Grenze zwischen der Kirche und der Außenwelt ziehe. Hinzu komme eine weit verbreitete pastorale  „Sprachlosigkeit" nicht zuletzt unter Priestern und Priesteramtskandidaten bei Fragen der Sexualität.

Blick auf das System

Die Komplexität des  „Systems Kirche" sei so groß, dass es daher nicht genüge, von Einzeltätern oder auch Helfern beim Vertuschen von Missbrauch zu sprechen. Es müssten viele Teile des Systems abgeklopft werden, die für sich genommen harmlos seien, im Gesamtsystem aber gerade aus Perspektive von Missbrauchsbetroffenen verheerend wirkten wie etwa Ausbildung, Theologie, Spiritualität, Selbstverständnis, Verwaltung, Machtverhältnisse etc.  „Es ist die Kombination und Wechselwirkung dieser Faktoren, die absolut toxisch wirken kann", so Zollner - und die noch dazu die wichtige Frage der Verantwortung in einem solchen System schwer beantwortbar mache.

Erst wenn man Missbrauch vor diesem Hintergrund systemisch betrachtet, könne auch nachhaltig Missbrauch bekämpft werden und Prävention gelingen:  „Es geht also um Transformation, um Reinigung, Umkehr, Bekehrung hin zu einer sensibleren, aufmerksameren Kirche, die sich überzeugter und überzeugender in der Nachfolge Jesu Christi befindet", so Zollner abschließend.

Hintergrund

Seit der Einrichtung der Kommission wurden laut offizieller Statistik bis Ende Juni 2025 insgesamt 3.651 Meldungen über Missbrauch und Gewalt im kirchlichen Bereich entgegengenommen. In 3.492 Fällen entschied die Kommission über finanzielle Hilfe und gegebenenfalls über die Übernahme von Therapiekosten. Insgesamt wurden 37,7 Millionen Euro an Betroffene ausbezahlt. Die meisten Fälle beziehen sich auf Heime und Betreuungseinrichtungen vor dem Jahr 1980. Fast die Hälfte der gemeldeten Vorfälle betrifft sexuelle Gewalt, häufig in Kombination mit psychischer oder körperlicher Gewalt.

Mit einer österreichweiten kirchlichen Rahmenordnung, einem standardisierten Vier-Stufen-Verfahren und verpflichtender Präventionsarbeit verfolgt die Kirche seit 2010 das Ziel, Missbrauch konsequent zu verhindern, Verantwortung zu übernehmen und erlittenes Unrecht anzuerkennen. Die Tagung in Wien stellte auch zukünftige Aufgaben in den Mittelpunkt, etwa den professionellen Umgang mit Verdachtsfällen, die internationale Zusammenarbeit und die Weiterentwicklung einer nachhaltigen Schutzkultur.

Aktualisiert 15.50

(kap – pr)
 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

21. Oktober 2025, 14:41