Vatikan: Berufungsverfahren im London-Prozess beginnt
Salvatore Cernuzio – Vatikanstadt
644 Tage nach dem erstinstanzlichen Urteil und unter einem neuen Papst beginnt am 22. September im Vatikan der Berufungsprozess zu dem Verfahren, mit dem Unregelmäßigkeiten in der Verwaltung von Geldern des Heiligen Stuhls aufgearbeitet werden sollen. Fünf Anhörungen sind in dieser ersten Woche (22. bis 26. September) vorgesehen. Damit beginnt eine zweite Phase nach dem erstinstanzlichen Verfahren, das im Juli 2022 begann und am 16. Dezember 2023 mit der Verurteilung von zehn Angeklagten unter anderem wegen Betrug und Korruption endete. Papst Leo hatte in der vergangenen Woche die neue Gerichtsaula im Apostolischen Palast besichtigt, die sich in Räumlichkeiten befindet, die im 20. Jahrhundert für Versammlungen der Bischofssynode genutzt wurden.
Das erstinstanzliche Verfahren
Im Zentrum steht der Kauf eines Luxus-Gebäudes in einem teuren Viertel Londons - ein Geschäft, das laut Urteil des vatikanischen Tribunals unter Vorsitz von Giuseppe Pignatone den Vatikan mindestens 139 Millionen Euro gekostet haben soll. Papst Leo XIV. erwähnte den Fall auch in seinem ersten veröffentlichten Interview am 18. September, als er über die Finanzen des Vatikans sprach: „Der Kauf dieses Gebäudes in der Sloane Avenue in London wurde bereits breit thematisiert, ebenso, wie viele Millionen dadurch verloren gegangen sind.“
Andere Ermittlungsstränge – unter anderem Zahlungen an eine Genossenschaft in Sardinien und an eine Managerin, die die für die Freilassung von festgehaltenen Ordensleuten erhaltenen Gelder für Luxusgüter ausgab – flossen in den Prozess ein, der in Teilen der Weltpresse auch als „Prozess des Jahrhunderts“ bezeichnet wurde. Gemeint war damit die Dauer (86 Anhörungen – ein Rekord für ein Verfahren im Vatikan), die Komplexität und die Tatsache, dass erstmals ein Kardinal, Giovanni Angelo Becciu, auf der Anklagebank saß.
Vatikanischer Prozess, 37 Jahre Haft für die Angeklagten
Am 16.12.2023 verhängte das vatikanische Tribunal nach langen Verhandlungen insgesamt 37 Jahre an Freiheitsstrafen. Kardinal Becciu wurde zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, dazu kamen der dauerhafte Ausschluss von öffentlichen Ämtern und eine Geldstrafe von 8.000 Euro.
Insbesondere Kardinal Becciu legte Berufung gegen das Urteil von 2023 ein, wie seine Anwälte bereits am Abend der Urteilsverkündung angekündigt hatten. Auch die Verteidiger der übrigen Verurteilten haben Berufung eingelegt.
Vor dem Gericht, das von Alejandro Arellano Cedillo, Dekan der Rota Romana, zusammen mit zwei Laienrichtern geleitet wird, legten die Verteidigungen ihre „zusätzlichen Gründe“ für das Verfahren vor.
Die Chat-Affäre
In den vergangenen Monaten brachten veröffentlichte Chat-Protokolle in einer italienischen Tageszeitung den Fall erneut in die Schlagzeilen. Es handelte sich um Konversationen zwischen Francesca Immacolata Chaouqui und Genoveffa Ciferri, beide als Zeuginnen vernommen worden waren und die beide in unterschiedlicher Weise mit Alberto Perlasca verbunden sind, dem ehemaligen Leiter des Verwaltungsbüros des Staatssekretariats. Dessen Aussagen hatten den Ermittlungen, die zur Anklage führten, den entscheidenden Anstoß gegeben – obwohl das Gericht ihn nicht für einen glaubwürdigen Zeugen hielt.
Einige Verteidigungen behaupteten, die beiden Frauen hätten Perlasca beeinflusst, unter anderem indem sich eine von ihnen als hochbetagter Richter ausgab. Dies sei über WhatsApp geschehen. Teile der Chats wurden von Ankläger Alessandro Diddi – der auch im Berufungsverfahren die Rolle des Promotore di Giustizia innehat – aus Gründen der Sicherheit und Prozessordnung geschwärzt. Die Verteidiger beanstandeten dies wiederholt während der 86 Anhörungen.
Ciferri übergab die Chats später dem Finanzier Raffaele Mincione, einem der Angeklagten, der sie wiederum einem UNO-Sonderberichterstatter weiterleitete. Schließlich wurden sie vollständig in der Zeitung Domani und in anderen Medien veröffentlicht. Nach Ansicht der Verteidigung zeigen sie, dass Perlascas Erinnerungsprotokoll und seine Vernehmungen Ergebnis einer Intrige gegen Kardinal Becciu seien, an der neben Chaouqui auch vatikanische Funktionäre beteiligt gewesen sein sollen. Kritiker sprachen von einem „vergifteten“ Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, beeinflusst durch persönliche Rachefeldzüge.
Die Urteilsbegründung
Für Kardinal Becciu, der stets seine „absolute Unschuld“ betont und von einer „weltweiten öffentlichen Demütigung“ sprach, sind dies zweifellos belastende Vorgänge. Doch die schriftliche Urteilsbegründung stellt klar, dass diese Chats und Perlascas Aussagen keinerlei Einfluss auf das Urteil hatten. Es heißt darin: „…ohne dass die Beweisbeiträge von Mons. Perlasca die Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortung auch nur im Geringsten beeinflusst hätten. Das Gericht hat sich ausschließlich auf die zahlreichen, unbestrittenen Fakten gestützt und die Verantwortung jenseits vernünftiger Zweifel festgestellt.“
Die „Rescripta“
Komplexer bleibt die Frage der sogenannten Rescripta von Papst Franziskus, die während der Ermittlungen erlassen wurden und den Staatsanwälten außergewöhnliche Befugnisse verliehen. Die Verteidiger kritisierten diese Eingriffe scharf, da sie angeblich eine willkürliche Auswahl und Schwärzung von Akten ermöglicht hätten.
Die Debatte drehte sich um die Gewaltenteilung im Vatikanstaat und das Recht auf Verteidigung. Während viele ausländische Gerichte die Unabhängigkeit der vatikanischen Justiz ausdrücklich anerkannten, vertraten die Verteidiger – allen voran Luigi Panella, Anwalt des Finanzberaters Enrico Crasso – die Ansicht, diese sei durch die mehrfachen Eingriffe des Papstes beeinträchtigt worden.
Diddi hingegen erklärte stets, die Rescripta hätten „nur Regelungen für ansonsten ungeregelte Tätigkeiten geschaffen“ und seien daher eine „Garantie für alle Beteiligten“ gewesen. Auch das Gericht unter Pignatone wies 2022 die Einwände zurück und betonte, dass dadurch keine Verletzung von Rechtsstaatlichkeitsprinzipien vorliege. In der schriftlichen Begründung des Urteils wurde außerdem hervorgehoben, dass „die Garantien eines fairen Verfahrens vollständig gewahrt“ worden seien.
Eine neue Phase
Am Montag beginnt somit eine neue Phase: Der erste Tag ist der Verlesung des Berichterstatters gewidmet, danach legen die Parteien ihre Berufungsbegründungen dar. Neben Kardinal Becciu haben auch andere Verurteilte Berufung eingelegt. Im Einzelnen sind dies Enrico Crasso, ehemaliger Finanzberater des Staatssekretariats (in erster Instanz verurteilt zu 7 Jahren Haft, 10.000 € Geldstrafe, dauerhafter Ausschluss von öffentlichen Ämtern); Raffaele Mincione (5 Jahre und 6 Monate, 8.000 € Geldstrafe, dauerhafter Ausschluss von öffentlichen Ämtern); Fabrizio Tirabassi, ehemaliger Mitarbeiter des Verwaltungsbüros des Staatssekretariats (7 Jahre Haft, 10.000 € Geldstrafe, dauerhafter Ausschluss von öffentlichen Ämtern); Nicola Squillace, Anwalt (1 Jahr und 10 Monate Haft, Strafe für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt); Gianluigi Torzi, Broker (6 Jahre, 6.000 € Geldstrafe, dauerhafter Ausschluss von öffentlichen Ämtern sowie ein Jahr „besondere Überwachung“ nach Art. 412 Strafgesetzbuch); Cecilia Marogna, Managerin (3 Jahre und 9 Monate Haft, zeitweiser Ausschluss für denselben Zeitraum).
(vatican news)
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