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Wortlaut: Papst Franziskus bei seiner Generalaudienz

Hier finden Sie die Ansprache, die der Papst an diesem Mittwoch bei seiner Generalaudienz gehalten hat, in einer Arbeitsübersetzung von Radio Vatikan.

Sämtliche Wortmeldungen des Heiligen Vaters im offiziellen Wortlaut finden Sie auf der Internetseite des Heiligen Stuhls.

Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!

In unserer Katechesenreihe zum Thema Alter betrachten wir heute das feinfühlige Bild des Evangelisten Lukas, das zwei alte Menschen, Simeon und Hanna, zeigt. Der Inhalt ihres Lebens, bevor sie Abschied nehmen von dieser Welt, ist die Erwartung des Besuchs Gottes. Sie haben darauf gewartet, dass Gott - also Jesus - sie besucht. Simeon weiß durch eine Vorahnung des Heiligen Geistes, dass er nicht sterben wird, bevor er den Messias sieht. Hanna geht jeden Tag in den Tempel und widmet sich ihrem Dienst. Beide erkennen in dem Kind Jesus die Gegenwart des Herrn, der ihr langes Warten mit Trost erfüllt und ihnen den Abschied vom Leben erleichtert. Es ist eine Szene der Begegnung mit Jesus und des Abschieds.

Was können wir von diesen beiden Gestalten geistig lebendiger Älterer lernen?

Zunächst einmal lernen wir, dass die Treue des Wartens die Sinne schärft. Denn wie wir wissen, tut der Heilige Geist genau das: Er erleuchtet die Sinne. In dem alten Hymnus Veni Creator Spiritus, mit dem wir auch heute noch den Heiligen Geist anrufen, heißt es: „Accende lumen sensibus“, entzünde ein Licht für die Sinne, erleuchte unsere Sinne. Der Geist ist dazu in der Lage: Er schärft die Sinne der Seele, trotz der Begrenzungen und Wunden der körperlichen Sinne. Das Alter schwächt auf die eine oder andere Weise die Sensibilität des Körpers: der eine wird blinder, der andere tauber.... Aber ein Alter, das sich in der Erwartung des Besuchs Gottes geübt hat, wird sein Vorbeikommen nicht verpassen, sondern es wird auch sensibler dafür sein, den Herrn zu empfangen, wenn er vorbeikommt. Erinnern wir uns daran, dass die Haltung eines Christen darin besteht, achtsam zu sein für die Besuche des Herrn, denn der Herr kommt in unserem Leben mit Inspirationen, mit der Aufforderung, bessere Menschen zu werden. Der heilige Augustinus pflegte zu sagen: "Ich fürchte mich davor, dass Gott vorbeikommt" - "Aber warum hast du Angst?" - Ich habe Angst, es nicht zu bemerken und ihn vorbeigehen zu lassen". Es ist der Heilige Geist, der unsere Sinne darauf vorbereitet, zu verstehen, wann der Herr uns besucht, wie er es bei Simeon und Hanna getan hat.

Das brauchen wir heute mehr denn je: ein Alter, das mit lebendigen geistigen Sinnen ausgestattet ist und in der Lage ist, die Zeichen Gottes zu erkennen, ja, das Zeichen Gottes, das Jesus ist. Ein Zeichen, das uns in eine Krise stürzt; es ist „ein Zeichen des Widerspruchs“ (Lk 2,34) - aber eines, das uns mit Freude erfüllt. Die Krise ist nämlich nicht immer unbedingt ein Grund zur Traurigkeit: nein, in Krise zu sein, wenn man dem Herrn dient, schenkt uns oft Frieden und Freude. Die Betäubung der geistigen Sinne - und das ist eine hässliche Sache: die Betäubung der geistigen Sinne -  in der Benommenheit der körperlichen Sinne ist ein weit verbreitetes Syndrom in einer Gesellschaft, die die Illusion der ewigen Jugend pflegt, und ihr gefährlichstes Merkmal ist, dass dies meist unbewusst geschieht. Man ist sich nicht bewusst, dass man betäubt ist. Und das passiert. Das kommt vor. Das war schon immer so, und es ist auch in unserer Zeit so. Die Sinne sind betäubt und verstehen nicht, was geschieht; die inneren Sinne, die Sinne des Geistes, die uns die Gegenwart Gottes oder die Gegenwart des Bösen erkennen lassen, sind betäubt, können nicht unterscheiden.

Wenn man sein Tast- oder Geschmacksempfinden verliert, merkt man das sofort. Aber die Sensibilität der Seele kann man lange Zeit ignorieren. Es ist nicht nur eine Frage des Denkens über Gott oder Religion. Die Unempfindlichkeit der geistigen Sinne betrifft das Mitgefühl und das Mitleid, die Scham und die Reue, die Loyalität und die Hingabe, die Zärtlichkeit und die Ehre, die Selbstverantwortung und die Sorge um andere. Es ist merkwürdig: Gefühllosigkeit führt nicht zu Mitgefühl, sie führt nicht zu Mitleid, sie führt nicht dazu, dass man sich schämt oder Reue empfindet, weil man etwas Schlimmes getan hat... Die betäubten geistigen Sinne vermischen alles, und man spürt diese Dinge geistig nicht. Und das Alter wird sozusagen das erste Opfer dieses Sensibilitätsverlustes. In einer Gesellschaft, die Sensibilität vor allem um des Vergnügens willen ausübt, kann es nur zu einem Verlust der Aufmerksamkeit für das Schwache kommen, und es herrscht der Wettbewerb der Gewinner. Natürlich ist die Rhetorik der Inklusion die rituelle Formel eines jeden politisch korrekten Diskurses. Doch eine wirkliche Korrektur der Praktiken des normalen Zusammenlebens ist damit noch nicht verbunden: Eine Kultur der sozialen Zärtlichkeit ist nur schwer zu entwickeln. Der Geist der menschlichen Geschwisterlichkeit - der meiner Meinung mit Nachdruck neu gefördert werden muss - ist wie ein aussortiertes Kleid, das man bewundern kann, ja, aber... in einem Museum. Man verliert die menschliche Sensibilität, diese Bewegungen des Geistes, die uns menschlich machen.

In der Tat können wir im wirklichen Leben mit rührender Dankbarkeit viele junge Menschen beobachten, die fähig sind, diese Geschwisterlichkeit in vollem Umfang zu ehren. Aber hier liegt das Problem: Es gibt eine Kluft, eine schuldhafte Kluft, zwischen dem Zeugnis dieses „Lebenssaftes“ sozialer Zärtlichkeit und dem Konformismus, der die Jugend zwingt, ihre Geschichte auf eine ganz andere Art zu erzählen. Was können wir tun, um diese Lücke zu schließen?

Aus der Geschichte von Simeon und Hanna, aber auch aus anderen biblischen Geschichten über das geistesempfindliche Alter, ergibt sich ein verborgener Hinweis, der es verdient, in den Vordergrund gerückt zu werden. Worin besteht die Offenbarung, die die Sensibilität von Simeon und Hanna weckt? Sie besteht darin, in einem Kind, das sie nicht gezeugt haben und das sie zum ersten Mal sehen, das sichere Zeichen des Besuchs Gottes zu erkennen. Sie akzeptieren, dass sie nicht Protagonisten, sondern nur Zeugen sind. Und wenn man akzeptiert, nicht Protagonist zu sein, sondern Zeuge, dann ist das eine gute Sache: dann durchläuft dieser Mann oder diese Frau einen Reifeprozess. Wenn man aber immer nur Protagonist sein will, dann wird man nie die Reife erlangen, die uns auf den Weg zur Fülle des Alters führt. Dann wird Gott nicht in ihrem Leben Gestalt annehmen, dann werden sie auf der Bühne nicht die Rolle der Retter spielen, dann wird Gott nicht in ihrer Generation, sondern in der kommenden Generation Fleisch. Sie verlieren den Geist, sie verlieren den Willen, mit Reife zu leben, und sie leben, wie man so schön sagt, oberflächlich. Es ist die große Generation der Oberflächlichen; derer, die sich nicht erlauben, die Dinge mit der Sensibilität des Geistes zu spüren. Aber warum erlauben sie es sich nicht? Zum Teil aus Faulheit, zum Teil, weil sie es ohnehin nicht können: Sie haben diese Fähigkeit verloren. Es ist hässlich, wenn eine Zivilisation die Sensibilität des Geistes verliert. Stattdessen ist es schön, wenn wir ältere Menschen wie Simeon und Hanna sehen, die sich diese Sensibilität des Geistes bewahrt haben und in der Lage sind, verschiedene Situationen zu verstehen, so wie diese beiden die Situation verstanden, sich ihnen gestellt hat, nämlich die Manifestation des Messias.  Dafür gibt es keinen Grund zu Groll oder Vorwürfen. Stattdessen: große Emotionen und großer Trost. Das Gefühl und der Trost, zu sehen und zu verkünden, dass die Geschichte ihrer Generation nicht verloren oder vergeudet ist, gerade wegen eines Ereignisses, das Fleisch annimmt und sich in der nachfolgenden Generation manifestiert. Und das ist es, was ein älterer Mensch empfindet, wenn seine Enkelkinder zu ihm kommen und mit ihm sprechen: Sie fühlen sich wieder lebendig... Es ist so wichtig, zu den älteren Menschen zu gehen, es ist so wichtig, ihnen zuzuhören. Es ist so wichtig, mit ihnen zu sprechen, denn [...] es gibt diesen Austausch der Kultur und der Reife zwischen Jung und Alt. Und so schreitet unsere Zivilisation auf reife Weise voran.

Nur das geistige Alter kann dieses Zeugnis geben, das demütig und schillernd ist und das für alle maßgebend und beispielhaft ist. Ein Alter, das die Sensibilität der Seele kultiviert hat, löscht allen Neid zwischen den Generationen, allen Groll, alle Vorwürfe für ein Kommen Gottes in der kommenden Generation aus, das mit dem Abschied der eigenen Generation einhergeht. Und das ist es, was einem aufgeschlossenen älteren Menschen mit einem aufgeschlossenen jungen Menschen passiert: Er verabschiedet sich vom Leben, übergibt aber - in Anführungszeichen - sein Leben an die neue Generation. Und genau so ist der Abschied von Simeon und Hanna: "Jetzt kann ich in Frieden gehen".

Die geistige Sensibilität des Alters ist in der Lage, den Wettbewerb und den Konflikt zwischen den Generationen glaubwürdig und endgültig aufzulösen. Das ist für Menschen unmöglich, aber für Gott möglich. Und wir brauchen sie heute so sehr, diese Sensibilität des Geistes, diese Reife des Geistes. Wir brauchen weise ältere Menschen, die reif sind im Geist und uns Hoffnung schenken für das Leben. Danke.

(vatican news - mg)

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30. März 2022, 11:01

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