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Ein früherer Soldat, dem ein Fuß amputiert wurde, versucht am 28. September bei einem Spiel des FC Bartka Ivano-Frankivsk in Lviv ein Tor zu schießen Ein früherer Soldat, dem ein Fuß amputiert wurde, versucht am 28. September bei einem Spiel des FC Bartka Ivano-Frankivsk in Lviv ein Tor zu schießen  (AFP or licensors)

Ukraine: Einbeinige Helden

„Helden“: So nennt man in der Ukraine die Kämpfer gegen die russischen Eindringlinge. Viele dieser „Helden“ tragen an der Front schwere Verletzungen und Verstümmelungen davon, Versehrungen an Körper und Seele.

Stefan von Kempis – Kyiv und Ivano-Frankivsk

In den Dörfern und Städten gehören Ex-Soldaten an Krücken oder im Rollstuhl inzwischen zum Straßenbild. Vielen wurden Gliedmaßen amputiert, oft unter schwierigen Umständen gleich hinter der Front. Der Malteserorden, der seit 1991 in der Ukraine aktiv ist, hat deswegen ein Prothesen-Projekt aufgelegt.

„Wir sind eigentlich zufällig reingeraten in diese Geschichte“, erzählt uns Pavlo Titko, Leiter des ukrainischen Zweigs des Malteser-Netzwerks mit Sitz in Lviv. „Am Anfang des Krieges war es noch überhaupt nicht klar, wie viele amputierte Menschen wir mit der Zeit bekommen würden. Aber klar war: Wir brauchen sofort ein Prothesen-Programm.“

„Am Anfang des Krieges war es noch überhaupt nicht klar, wie viele amputierte Menschen wir mit der Zeit bekommen würden“

Schon im Sommer 2022 ging’s los, kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, mit Starthilfe ukrainischer und auch deutscher Behörden: 211 Prothesen in einem Jahr.

„Parallel dazu hatten wir eigentlich ab dem ersten Kriegstag Kontakte zu einem Rehazentrum.“ Und zwar in Lviv. „Das war vor dem Krieg ein Zentrum für behinderte Menschen gewesen; man konnte dort als behinderter Mensch einen Führerschein erwerben, es gab eine Näherei sowie Ausbildungen zum Friseur oder zum Masseur. Und dieses Haus hat angefangen, die Veteranen mit Amputationen zu empfangen.“

Eine komplexe Service-Struktur

In dem Rehazentrum in Lviv, das dem Sozialministerium untersteht, haben die Malteser mittlerweile mit Spenden aus der deutschen Stadtgemeinde Ostfildern eine Prothesen-Werkstatt eingerichtet. Zugleich haben sie entsprechendes Personal aus- bzw. fortgebildet. Das war gar nicht so einfach, sagt Titko:


„Es gibt in der Ukraine riesige Probleme auf dem Arbeitsmarkt, in jedem Bereich – dadurch, dass die Männer rekrutiert werden. Die Konkurrenz ist groß. Es gab vor dem Krieg private Firmen im Bereich Prothesen, aber das ist wiederum nicht das, was wir brauchen: Diese Firmen haben keine Rehabilitation, die haben keine Geh-Schule. Und hier geht es um Hunderte Menschen, die in diesen Räumlichkeiten liegen; man braucht eine komplexe Service-Struktur…“

Zum Zahnarzt und ins Schwimmbad

Diese Struktur ist gerade im Entstehen. „Über die Jahre soll das wirklich zu einem komplexen Projekt werden, wir sehen das wirklich auch als sehr langfristige Geschichte.“ Das individuelle Anpassen von Prothesen ist – daran lässt Titko keinen Zweifel – kostspielig und kompliziert. „Die meisten Patienten sind sehr jung; dadurch, dass sie Glieder verloren haben, verändert sich sehr stark ihr Gewicht, ihre Psyche, ihre Lebensumstände. Das heißt, sie werden in einem Jahr ganz anders aussehen, und man muss die Prothesen dann wieder neu produzieren.“

Natürlich brauchen die Patienten in Lviv auch psychologische Betreuung. Und sie müssen auch mal rauskommen, sollen nicht immer nur in einem der inzwischen zwei Zentren herumhängen. „Wir haben ein Fahrzeug, mit welchem wir diese Menschen zum Beispiel zum Zahnarzt fahren. Und in der Zeit, in der ein Teil dort in Behandlung ist, geht die andere Hälfte der Gruppe schwimmen! Denn wir haben eine Schwimmhalle gefunden, wo sie kostenlos schwimmen können.“

„Die würden sich wünschen, einfach im Rollstuhl einen Tag am See zu verbringen und zu fischen“


Überhaupt: Sport. Das ist für diese Männer mit ihren Prothesen unglaublich attraktiv. „Wir wollen regelmäßige Fußballreisen organisieren – die Jungs, die stehen auf solche Sachen. Wir haben es schon mit Theater und Oper und allem Möglichen versucht, wo wir kostenlosen Eintritt haben, aber das kommt nicht so gut an wie Fußball oder Schwimmbad. Oder einfach mal ein Schaschlik draußen.“ Viele Veteranen träumen nach Titkos Angaben auch davon, einfach mal wieder angeln zu gehen, wie vor dem Krieg. „Die würden sich wünschen, einfach im Rollstuhl einen Tag am See zu verbringen und zu fischen.“

Für Männer mit schweren Amputationen haben die Malteser Scooter beschafft. „Die Scooter sind gebraucht; wir reparieren und prüfen sie, bevor wir sie ausgeben. Die werden mit symbolischen Nummernschildern versehen; und das macht schon sehr viel Freude!“

In der Prothesen-Werkstatt in Lviv
In der Prothesen-Werkstatt in Lviv

„Auf einmal fährt so ein Scooter mit dem Malteserschild vorbei“

Im August ist Titko bei einer Autofahrt in Richtung Kyiv mal einem solchen Scooter begegnet: „Ich bin schnell gefahren, über einen Berg – und auf einmal fährt so ein Scooter mit dem Malteserschild vorbei, gefahren von einem Mann ohne Beine. Ich wollte stoppen, umdrehen und ihn begrüßen, aber er war schon über alle Berge. Also, das ist etwas, was wirklich Spaß macht – wenn man sieht, wie es funktioniert…“

Eindrücke aus der Prothesenwerkstatt der Malteser in Lviv

„Ohne Beine, na gut, aber ich bin am Leben“

An der Front ein Bein oder einen Arm zu verlieren, bedeutet ein Drama für junge Menschen. Physisch, aber auch psychisch. Jedenfalls denkt man das als Besucher im Lviver Prothesenzentrum. Doch Pavlo Titko sagt: „Es ist erstaunlich – aber bis man diese Erfahrung nicht gemacht hat, kommt man nicht auf die Idee… Die meisten sagen: ‚Ich bin am Leben. Ohne Beine, na gut, aber ich bin am Leben, und die anderen nicht!‘ Das ist die Antwort von den meisten – nicht von allen, aber von den meisten. Sie sind jung, sie denken so, wie sie denken. Ich kann das nur konstatieren: In den meisten Fällen lachen sie!“

Das gelte nicht für die, die eine Zeit in russischer Gefangenschaft verbracht hätten. Aber doch für die meisten derjenigen, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten.

„Die glauben an Super-Prothesen“

„Die glauben an Super-Prothesen, die haben Super –Erwartungen: ‚Ich werde laufen, ich werde Sport treiben, wenn ich die Prothese bekomme‘. Viele nehmen sich auch Dinge vor wie: ‚Wenn ich die Prothese bekomme, dann werde ich nicht mehr trinken‘. Solche Sachen. Also, oft sind sie auch ein bisschen kindisch – obwohl sie in diesem Krieg so viel Schreckliches erlebt haben. Ja, es ist anders, als man sich das denken kann…“

Dabei sei es gar nicht so einfach, mit den jungen Männern ins Gespräch zu kommen und einen Draht zu ihnen zu finden. Den Malteserhelferinnen gelinge das allerdings, „weil deren Männer oder Kinder auch durch den Krieg gegangen sind. Und dann findet sich so ein Kontakt – sonst ist es sehr kompliziert. ‚Wenn du nicht da warst, dann gehörst du nicht dazu‘.“

(vatican news)

07. Oktober 2025